Andix - von Kolumbien nach Feuerland

19.10. 19:00 Escuela Molulo, 2950m


In der erste Stunde meiner Abfahrt kann ich sogar noch ein bisserl was sehen von der Gegend. Aber je tiefer ich komme, desto gnadenloser schlägt der argentinische Ostseitenandennebel zu.


Bald schon stecke ich in der dicksten und widerlichsten grauen Suppe, die man sich vorstellen kann. Das wird sich auch den ganzen restlichen Tag über nicht ändern, Essig ists mit Panorama, Essig ists mit Fotos, Essig ists mit Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Überall siehts gleich aus... oben... unten... links... rechts... Berg- oder Dschungelblick völlige Fehlanzeige. Der Nebel ist oft derart undurchdringlich, dass ich nur noch mit deutlich reduzierter Geschwindigkeit unterwegs sein kann. Sowas kenn ich von den Alpen sonst nur als "Whiteout" im Winter, aber hier sieht man die Hindernisse auf dem Weg einfach zu spät. Und mit dreißig Sachen möchte ich nicht unbedingt von einem überraschend auftauchenden und etwas ungehaltenem argentinischem Kampfstier auf die Hörner genommen werden (moderate aber literarisch wertvolle Übertreibung).

An dieser Stelle möchte ich mich nochmal explizit bei meinem treuen Kumpel "Galaxy Note 2" bedanken. Ohne GPS und Track bzw. der OSM-Karte wär ich heute völlig aufgeschmissen. Meistens kann man den Weg zwar auch halb blind leidlich verfolgen, aber ein ums andere Mal münde ich auch auf einer kleinen Wiese oder Ebene mit dutzenden identischer Spuren in allen Richtungen. Definiert weiter gehts dann erst nach ein paar hundert Metern, wenn man den richtigen "Ausgang" findet. Karte und Kompass?! Vergesst es... das taugt bei diesem Wetter nur zum Nase putzen. Keine Chance bei fünf Meter Sicht. Nur moderne Technik hilft da weiter, alles andere ist Augenwischerei.

Später gesellt sich zum Nebel auch noch unangenehm dauerhafter Regen, was meine sowieso schon fragwürdige Übernachtungsstrategie vollends über den Haufen wirft. Das Zelt hat ja die Gepäcktaschenspionin im sonnigen Chile, ich wollte mich halt irgendwo unter den Sternenhimmel legen. Guter Plan... falsche Jahreszeit. Zur Not bliebe noch der Biwaksack und eine Felsnische, aber wer will das?! Selbige sind außerdem recht schwer zu finden hier. Ich seh zwar nix, aber der Weg scheint mir eher über steile grasige oder erdige Hügel zu führen, statt durch Felswände.


Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreiche ich "Molulo": Übernachtungsplan B. Auf meiner Karte ist das nur ein einzelnes Haus und die Wirklichkeit sieht auch nicht anders aus. Zunächst seh ich eine einsame Gestalt über den Hof tapsen, doch in der nächsten Minute bin ich schon umringt von einem dutzend kreischender Kinder... que pasa?!


"Molulo" ist offensichtlich eine Schule für die verstreut lebenden Familien der Bergbewohner. Die "Señora Directora" empfängt mich mit offenen Armen, heißem Kaffee und Busserl links und rechts. Natürlich dürfte ich bei ihnen übernachten, es gibt Platz im Überfluss, frisch bezogene Betten, heisse Kartoffelsuppe zum Abendessen und später einen Film auf DVD.


Schwein gehabt... und deutlich angenehmer als eine Felsnische im Biwaksack mit Dauerregen. Bezahlen darf ich auch nix, wo kämen wir denn da hin. Aber die Kids freuen sich wie die Schneekönige über meine Schokoplätzchen und der mitgeschleppte Kuchen wird später mit der Direktorin und den zwei Lehrern zum Nachtisch geteilt.


Escuela Molulo... mitten im Nirgendwo in den argentinischen Bergen. Die Niños sind zwischen vier und vierzehn und wohnen zwei bis sechs Stunden Fußmarsch entfernt in einsamen Höfen irgendwo versteckt in den Bergen. Sie verbringen jeweils zwanzig Tage am Stück in der Schule, gefolgt von zehn Tagen daheim. Die Lehrer marschieren dann zwölf Stunden lang zurück in die Zivilisation nach Tilcara. Verrückt... aber scheint zu funktionierten.


Zum Trail heut kann ich wenig sagen... hab ihn nur selten gesehen. Gab aber viel groben Schotter und dutzende kleine sowie einige größere Zwischenanstiege, die allesamt geschoben werden müssen. Der richtige Flow wollte sich irgendwie nicht einstellen. Aber in der Schule gefällts mir... und vielleicht wirds ja morgen besser!
 

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Re: Andix - von Kolumbien nach Feuerland
Jetzt auch mal von mir als stillen Mitleser ein Danke fürs mitnehmen, die tollen Fotos und interessanten Geschichten rund um die Fotos.
 
Schöne Erlebnisse, die du da in Molulo hast. Es freut mich, so etwas zu lesen. Obwohl für die Leser sicher auch eine Nacht im Freien interessant geworden wäre :aetsch:

Wenn Argentinien Mondpreise hat, kannst du dich ja schon mal ein bisschen vorbereiten auf das vermutlich noch höhere Presiniveau beim Marsix :)
 
Das mit der Schule zeig ich gleich erst mal meinen Kindern. Da sieht man noch mal wie gut man`s hat. Zwanzig Tage Schule am Stück und weg von daheim. Schon heftig.
Aufgrund der interessanten Informationen, ohne Übersetzung der Spionin, nehme ich an, dass dein Spanisch im letzten halben Jahr deutlich zugelegt hat.
Super Bericht, auch mit nebligen Trailbildern und Kühen mit Hörnchen. Muchas Gracias.
 
20.10. 18:00 Libertador General San Martin, 480m


Die Escuela Molulo hat modernes Satelliten-Internet... oder besser "hätte". Seit über einem halben Jahr schon flutschen keine Bytes mehr durch den Weltraum. Ich versuch mich eine Weile an einer Reperatur, muss aber schließlich unverrichteter Dinge klein bei geben. Hab nicht so die Erfahrung mit solchen Schüsseln... schade... hätte gern geholfen. Bis ein Techniker von Sky den mühsamen Weg hier her findet, vergehen wahrscheinlich nochmal zehn Monate.


Escuela Molulo im Bildhintergrund. Nach gemeinsamem Frühstück mit Lehren und Kids mach ich mich gut genährt auf die Stollen zur zweiten Etappe. Bin gestern trotz fehlenden Startshuttle und ohne Gepäcktransport etwa drei Stunden weiter gekommen als die Protagonisten aus dem Bike-Magazin und werd den Trail wohl in zwei statt drei Tagen fahren. Drum hab ich jetzt mehr als genug Futter und kann zum Abschied nochmal ne Rolle Kekse spendieren. Die Niños bekommen natürlich sonst auch genug zu Essen, aber Leckerlis aus einem richtigen Supermarkt in der "Zivilisation" sind eine Seltenheit. Und ich freu mich auch, wenn ich weniger schleppen muss.


Noch seh ich was, ...


... aber schon bald...


... ist wieder Dicknebel angesagt. Heut regnets zwar nicht, aber die Luftfeuchtigkeit beträgt geschätzte dreihundertzweiundvierzig Prozent. Schwierig für Brillenträger.


Lass es trotzdem krachen... bin heut irgendwie besser drauf. Und unterhalb der Baumgrenze ist das mit dem Nebel nicht ganz so tragisch.


Allerdings ist auch heute recht viel Schiebung angesagt, teils in elend rutschigem rotem Schleim. Gegenanstiege bietet der Tilcara-Calilegua-Trail wirklich reichlich, insgesamt ein wenig zu viele für meinen Geschmack.


Endlich scheine ich die Untergrenze der dauerhaften Wolkenbank zu durchbrechen.


So sieht die Sache...


... schon deutlich besser aus!


Auf feinem roten Sand...


... brezle ich über tausend Höhenmeter hinab...


... in einen tiefen Canyon.


Trailblume.


Trailstachel. Von Plattfüßen bleibe ich allerdings verschont. Besser ist das, denn der Weg hinaus ist noch weit und mein Futtervorrat geht zur Neige.


Das Ende vom Trail... besteht aus weiteren dreihundert Höhenmetern Schiebestrecke hinaus aus dem roten Canyon und auf der anderen Seite rauf zu einer Dschungelpiste.


Hier ist Remmidemmi... eine Pferdekarawane mit neuen Vorräten für die Schule wird gerade beladen. Die werden wohl bis tief in die Nacht unterwegs sein.


Ich schaffs zum Glück schneller... nur noch dreißig Kilometer Dschungelpiste durch den Nationalpark Calilegua und ich bin raus! Der seltsam benamte Ort "Libertador General San Martin" liegt grad mal auf fünfhundert Metern... so tief war ich wohl seit den Start in Kolumbien nicht mehr. Sauerstoffoverkill!

Fazit zum Tilcara-Calilegua-Trail? Bisserl Wetterpech: selbst schuld, ab Oktober ist hier Regenzeit. Tag 1 mit 41km, 2100m bergauf, 1600m bergab. Tag 2 mit 83km, 1350m bergauf, 3800m bergab (davon am Ende 40% Piste). Ganz schön langes Teil... und durchaus ziemlich cool. Mit warens allerdings insgesamt gesehen zu viele Schiebungsgegenanstiege, die bremsen den Flow doch erheblich runter. Der Salkantay-Trek in Peru war da etwa ne andere Nummer. Aber das ist Gewinsel auf hohem Niveau, auch Tilcara-Calilegua ist ein wunderbares Bikeabenteuer. Nur härter.
 
"literarisch wertvolle Übertreibung" - Super, Stuntzi, mehr davon. Selten solch tollen Bericht gelesen, sogar von Dir. Ich habe mich köstlich amüsiert.
 
in der Tat "Gewinsel auf hohem Niveau" ;)
Aber da du wegen Gegenanstiegen winselst, versteh ich dich voll und ganz. Sowas verdirbt mir auch immer den Spaß... äh Flow.
Trotzdem ein cooles Abenteuer, von dem wir daheimgebliebenen Europäer mal wieder nur träumen können. Doch irgendwie alles viel "zivilisierter" und langweiliger hier. Danke für den toll geschriebenen Bericht und natürlich wie immer: weiter so!
 
Schöne Sache mit der Schule!

Seit wann hast du eigentlich eine Brille?
Ich tippe auf 1-2 Jahre, oder doch schon länger?
Früher sah man dich nicht mit Brille.
 
21.10. 21:00 Salta, 1200m


Mit meinen Busfahrten hab ich irgendwie kein besonderes Glück in Argentinien. Auf dem Weg von San Pedro nach Tilcara vor drei Tagen hat die Grenzabfertigung geschlagene drei Stunden gedauert. Und jetzt, auf dem eigentlich recht kurzen Stück von Calilegua nach Salta, steh ich im Monsterstau: Drei Stunden lang bewegen wir uns keinen Zentimeter. Die spinnen, die Argentinier. Wollte heut gleich weiter, zurück aus dem Tiefland auf die Reiseradroute in den hohen Bergen. Das kann ich jetzt vergessen, der Anschlussbus ist lange fort.


Immerhin erhalte ich in Salta meinen restlichen Krempl zurück, von mir selbst an mich selbst vor drei Tagen aus Tilcara verschickt. Diesen Service übernehmen hier die Busgesellschaften... praktische Einrichtung. Hätte wenig Sinn gemacht, die restlichen zehn paar Bremsbeläge und noch ein paar mehr Ersatzteile oder warme Klamotten über den Trail zu schleppen.


Jetzt häng ich erst mal in Salta fest. Macht wenig Spaß so ganz ohne Spionin... dann besauf ich mich eben. Ein Liter reicht dazu allemal, nach sechs Monaten Fastkomplettabstinenz.

Während ich diese Zeilen in mein Telefon swype (Hardware-Ersatztastatur von Huaraz ist schon lange tot), fachsimpeln vier radbegeisterte französische Herren gehobenen Alters begeistert über Specki. Jedes Einzelteil wird genau unter die Lupe genommen, jeder Aspekt wird diskutiert. Wenn ich nicht aufpasse, fangen die bald an, mein Radl in seine Einzelteile zu zerlegen. Aber immerhin stellen sie informierte und intelligente Fragen... warum X0... ist karbon wirklich dauerhaft stabil... 26 zoll gibts noch... was ist das für ne seltsame nabe vorne... fully als reiserad... wozu die doppelhörnchen... etcpp. Macht irgendwie deutlich mehr Spaß, als der in Südamerika schon fast zwingende Standardsatz "was kostet das".

Anyway... der weitere Plan... zurück auf die Radreiseroute... dann über den höchsten Pass Argentiniens (Abra Acay, 4960m) weiter nach Süden.

Buenitas nochitas...
 
Schöne Sache mit der Schule!

Seit wann hast du eigentlich eine Brille?
Ich tippe auf 1-2 Jahre, oder doch schon länger?
Früher sah man dich nicht mit Brille.
Bin schon immer etwas kurzsichtig. Früher halt mit Kontaktlinsen, aber das ist in südamerikanischen Sand- und Salzstürmen im Zelt einfach zu viel Geschiss. Daher auf diesem Trip ne Brille.
 
"Aber immerhin stellen sie informierte und intelligente Fragen... warum X0... ist karbon wirklich dauerhaft stabil... 26 zoll gibts noch... was ist das für ne seltsame nabe vorne... fully als reiserad... wozu die doppelhörnchen... etcpp."

Na dann ist's im real life ja auch nicht anders als hier im Forum. :-D
 
Da kommen wieder diese schönen Charaktereigenschaften von Stuntzi ans Tageslicht.
Stefan, dass Du die Schüssel reparieren wolltest, finde ich wirklich nett. Und dass sich die Kids nicht nur über die Leckerlis gefreut haben, da bin ich mir sowieso sicher. Eine willkommene Abwechslung so ein cooler Biker und ein Erwachsener, der nicht belehrt, sondern sich auf Augenhöhe bückt. Schön! Danke für diese Geschichte!
 
Ich muss auch noch mal ein dickes Dankeschön loswerden:daumen:. Als Mitleser seit der Originaltour hatte ich die "Befürchtung", dass dieser Tripp irgendwann mal etwas monoton wird. Dies ist aber absolut nicht der Fall. Bisher liest sich dein Live-Bericht wie ein spannendes Buch. Es gibt immer wieder neue Kapitel mit neuen Wendungen sodass man sich schon auf das kommende freut! Super!! Ich wünsch euch beiden weiterhin viel Spass und vor allen Dingen dass ihr gesund bleibt.
 
Hoffen wir das es nicht regnet..

Abra el Acay
Befahrbarkeit
Die einsame, unbefestigte Straße, Teil der Ruta Nacional 40, ist in der Regel, besonders nach Regenfällen, nur mit geländegängigen Fahrzeugen zu bewältigen. Nicht selten ist die Straße wegen Bergrutsches o.ä. unpassierbar. Dennoch ist es möglich, die Gebirgsstraße an guten Tagen mit einem normalen Straßenwagen zu überfahren, wobei mehrere kleine Furten passiert werden müssen.
 
Ich muss auch noch mal ein dickes Dankeschön loswerden:daumen:. Als Mitleser seit der Originaltour hatte ich die "Befürchtung", dass dieser Tripp irgendwann mal etwas monoton wird. Dies ist aber absolut nicht der Fall. Bisher liest sich dein Live-Bericht wie ein spannendes Buch. Es gibt immer wieder neue Kapitel mit neuen Wendungen sodass man sich schon auf das kommende freut! Super!! Ich wünsch euch beiden weiterhin viel Spass und vor allen Dingen dass ihr gesund bleibt.
Finds bisher auch nicht monoton, eher das Gegenteil. Aber wenn ich so auf der Karte nach Süden runter blicke... hmmm... wo sind meine nächsten Highlights?
 
230.000 Hömes!!! Ich geh kaputt, soviel bin ich, als berliner Flachländer, vermutlich nicht mal in meinem gesamten Bikerleben geradelt :eek:
 
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