40 Jahre Jagdverbot:
Den Wildtieren in Genf geht es gut
Der Kanton Genf hat heute einen stabilen Huftierbestand von rund 60 Rothirschen und 200 bis 300 Rehen. Gottlieb Dandliker ist seit 2001 Faunainspektor im Kanton Genf und verantwortlich für das Wildtiermanagement. Als erklärter Tierfreund und Naturschützer hatte er nach seinem Biologiestudium für verschiedene NGOs wie den Schweizer Vogelschutz gearbeitet. Bei seinem Vortrag "Jagdverbot: wissenschaftlich möglich und praktisch bewiesen" am 15.10.2013 an der Universität Basel berichtete er, dass die Rehe – von denen es 1974 nur noch wenige gab – nach dem Jagdverbot den Kanton Genf nach kurzer Zeit wieder besiedelt haben. „Wir kommen pro Quadratkilometer auf etwa 10 bis 15 Rehe, was nicht übertrieben ist, wenn man bedenkt, dass sie 40 Jahre lang nicht bejagt wurden. Es findet also irgendwie eine Regulation statt.“ Die Reh-Population ist seit Jahren stabil. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob die Rehe nicht Schäden im Wald verursachen. „Wir haben in Genf vor allem Eichenwälder“, erklärt Faunainspektor Gottlieb Dandliker. „Und es ist ganz klar: Das Reh bedroht den Wald nicht.“ Nun besteht ja bekanntlich ein Unterschied zwischen Wald und Forst: „Wenn der Förster einen bestimmten Typ von geraden Eichen haben will, den er in 200 Jahren sehr teuer verkaufen kann, dann kann es ein Problem geben.“ Diese so genannten Zukunftseichen würden dann wie die Weinreben individuell geschützt.
Dank Jagdverbot ist Genf eine der letzten Bastionen für Wildkaninchen und Rebhühner auf Schweizer Boden: „Wir haben die letzte Rebhuhnpopulation in der Schweiz“, sagt Faunainspektor Dandliker. Und: Genf hat heute die größte Populationsdichte von Feldhasen. Vor der Volksabstimmung im Jahr 1974 hatte die Jagdlobby behauptet, ohne Jagd wäre der Feldhase im Kanton Genf von der Ausrottung durch Beutegreifer bedroht. Das Gegenteil war der Fall: Inzwischen erfreut sich der Kanton Genf einer gesunden, vermehrungsfähigen Feldhasenpopulation - der größten in der Schweiz. Ein Grund dafür ist neben dem Jagdverbot auch eine Extensivierung in der Landwirtschaft. Genf ist ein Pionier-Kanton: 10 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen sind ökologische Kompensation, also qualitativ hochwertiger für die Biodiversität. Davon profitieren auch Rebhühner, Greifvögel und Beutegreifer wie Marder und Fuchs. „Greiftiere sind breit vorhanden, führen aber zu keinem Problem“, so der Faunainspektor. „Wir regulieren keine Füchse, Marder oder Dachse.“ Im Sommer wurde ein junger Luchs – ein Waisentier aus dem Kanton Waadt – in Genf freigelassen. Offenbar war zu befürchten, dass das Jungtier ansonsten abgeschossen würde.
Die Befürchtung der Landwirte, dass das Jagdverbot mehr Schäden an Kulturen bringen werde, hat sich nicht bewahrheitet: Die Schadenszahlen im Kanton Genf sind vergleichbar mit denen von Schaffhausen - obwohl in Schaffhausen die Jagd erlaubt ist. Durch die vielen Feldhasen kommt es zu Schäden an Sprösslingen von Sonnenblumen. Doch die Genfer Landwirte werden dafür durch jährliche Zahlungen von 30.000 bis 60.000 Franken entschädigt. Rehe verursachen vor allem Schäden in Fruchtbaumplantagen und an Weinreben. Die jährlichen Entschädigungszahlen liegen hier zwischen 20.000 und 80.000 Franken.
Und was ist mit den Wildschweinen?
1974 waren die Wildschweine schon seit Jahrzehnten im Kanton Genf ausgerottet. Nach dem Jagdverbot haben die Wildschweine Genf von Frankreich aus wieder besiedelt. In der abwechslungsreichen Landschaft des Kantons haben sich die Tiere sehr gut angepasst und schnell vermehrt. Schließlich wurden Schäden in der Landwirtschaft wurden politisch untragbar und eine Regulierung des Bestandes wurde notwendig. Ende des 20. Jahrhunderts sind die Wildschweinbestände regelrecht explodiert. »Diese Erfahrung hat man aber in ganz Europa gemacht, unabhängig von einem Jagdverbot«, so Faunainspektor Gottlieb Dandliker. Weil die Wildschweine jetzt nicht nur Schäden im Mais verursachten, sondern auch im Herbst an die Weinreben gingen, kam es zu einer Wildschweinkrise in Genf. »Und da haben sie meinen Posten geschaffen«, erzählt der Biologe.
Genf setzt hier auf Schadensprävention: Um Schäden durch Wildschweine in der Landwirtschaft zu verhindern, werden elektrische Zäune um die Kulturen aufgestellt. »Das ist eigentlich ganz einfach - da reichen zwei Bänder«, erklärt Dandliker. Diese Methode sei sehr effizient. Doch es habe lange gedauert, die Landwirte davon zu überzeugen. Bei den Weinbergen müsse man nur die Reben in der Nähe von Wildschwein-Einständen und die besonders frühen Sorten schützen. Wenn es später Eicheln im Wald gebe, gingen die Wildschweine nicht mehr in die Weinberge.
Weil das Schadenspotential durch Wildschweine in der Landwirtschaft hoch ist, hat die Regierung einen Beschluss gefasst, die Wildschweine durch Abschüsse zu regulieren. „Diese Regulation
erfolgt ausschließlich durch Wildhüter, es werden keine Amateurjäger einbezogen“, so Gottlieb Dandliker. Für diese „Gardes de l’environnement“ spielen Sicherheit, Ethik und Tierschutz eine große Rolle: „Wir können uns nicht einen einzigen Unfall leisten.“ Tierschutz bedeutet vor allem die Vermeidung von angeschossenen Tieren. „Das passiert massenweise in der Umgebung, im Waadtland, in Frankreich. Da werden Treibjagden gemacht, die Tiere werden angeschossen, man findet sie oder findet sie nicht - oder erst eine Woche später“, berichtet der Faunainspektor. „Stresssituationen wie bei Treibjagden - wo die Tiere wissen: das war eine ganz furchtbare Sache - gibt es bei unserer Regulation nicht.“ Führende Bachen werden nicht geschossen - aus ethischen Gründen. Denn wenn die säugende Mutter fehlt, sterben die Kleinen. Auch die Leitbachen und die großen Eber werden nicht geschossen. „Dadurch erhoffen wir uns eine Stabilität in der Rotte und im Verhalten der Tiere“, erklärt Dandliker. „Wir haben hier regelmäßig Gruppen von Wildschweinwaisen von der französischen Jagd, die ihre Mutter verloren haben und in die Dörfer kommen.« Solche führungslose Frischlinge können natürlich große Schäden verursachen. Und es ist bekannt, dass sich Wildschweine nach Abschuss der Leitbache unkontrolliert vermehren.
Für die Dezimierung der Wildschweine wird rund eine Vollzeitstelle aufgewendet – die Schwarzwildregulation kostet den Kanton also sehr wenig. Die Wildschweinpopulation im Kanton Genf schwankt heute zwischen 100 und 400 Individuen. „In den letzten zehn Jahren hat ein Wandel stattgefunden – auch bei den Bauern, die grundsätzlich sehr gegen das Schwarzwild sind. Auch wenn es Schaden macht: Das Wildschwein ist ein Tier, das einfach zur Landschaft gehört. Und ist in diesem Sinn inzwischen akzeptiert.“
Jagdverbot in Genf:
90 Prozent der Bevölkerung steht dahinter
Was ist nun die gesellschaftliche Bilanz des Jagdverbots? Das Jagdverbot hindert ein paar Hundert von 500.000 Genfern an der Ausübung ihres Hobbys im eigenen Kanton. Doch die Vorteile für die große Mehrheit sind bemerkenswert: Das Jagdverbot ermöglichte eine Rückkehr vieler Tiere und einer Artenvielfalt in den Kanton und macht Wildtiere für die Menschen wieder erlebbar. Und: Das Jagdverbot erhöhte die Sicherheit für Spaziergänger: „Im angrenzenden Waadtland oder in Frankreich kann man im Herbst nicht einfach so spazieren gehen. Da ist entweder die Hirschjagd oder die Wildschweinjagd“, so Faunainspektor Gottlieb Dandliker. Und immer wieder kommt es zu Jagdunfällen.
Die Bevölkerung von Genf steht mit großer Mehrheit hinter dem Jagdverbot: Eine repräsentative Meinungsumfrage aus dem Jahr 2006 ergab 90 Prozent Zustimmung zur Beibehaltung des Jagdverbots. 2009 kam es im Kantonsrat zu einem Vorstoß, um über die Wiedereinführung der Jagd abzustimmen. Mit 71 zu 5 Stimmen bei 6 Enthaltungen wurde dem klar eine Abfuhr erteilt.
Somit wird in Genf seit 40 Jahren auf einer großen Fläche und in einer Kulturlandschaft ein einmaliges Experiment erfolgreich durchgeführt.
Vorbild Genf:
Schutz und Förderung der biologischen Vielfalt
Der Kanton Genf setzt sich mit einer Fülle von Maßnahmenplänen und konkreten Projekten für den Schutz und die Förderung der biologischen Vielfalt ein. So wurden zwischen 2010 und 2012 insgesamt 400 Hektar Fläche als staatliche Naturschutzgebiete klassifiziert. Über den ganzen Kanton ist ein Netzwerk von unterschiedlichen Lebensräumen wie Gewässern und Wald entstanden, in der eine Vielzahl von zum Teil seltenen Tieren und Pflanzen eine Heimat gefunden haben. Mit dem Genfer See, dem Fluss Rhône sowie Bächen haben die Gewässer internationale Bedeutung für den Vogelschutz gewonnen.
Im Jahr 2007 wurde im Kanton Genf ein Gesetz für den Landschafts- und Biotopschutz sowie die Erhaltung der Flora erlassen, das die Pflege und den Unterhalt dieser Flächen sichert. Für Rebhuhn, Steinkauz, Kronwicken-Bläuling, Hundszahnlilie und andere bedrohte Arten gibt es spezielle Förderungsprogramme.
Elf professionelle Wildhüter (Gardes de l’environnement) sind mit der Aufsicht über die Naturreservate sowie die Flora und Fauna betraut. Diese Naturschützer erledigen eine Vielzahl von anderen Aufgaben wie die Kontrolle der Naturreservate, Wildschadenverhütung und die Überwachung der Fischerei. Im direkten Kontakt mit der Bevölkerung vor Ort sind sie auch in der Umweltbildung tätig. Laut Genfs Faunainspektor Gottlieb Dandliker kostet der Einsatz der professionellen Wildhüter den Steuerzahler pro Jahr weniger als eine Tasse Kaffee: Insgesamt sind es ca. 1.200.000 Franken auf 500.000 Einwohner – und zwar inklusive Wildschadensprävention in der Landwirtschaft (250.000 Franken) und Entschädigungszahlungen an die Landwirte (350.000 Franken). „Das, was wir machen, ist ja hauptsächlich für die Landwirtschaft“, so Dandliker. Und er weist darauf hin, dass das Jagdverbot den Kanton günstiger kommt als mit Jagd: „Die Organisation einer Patentjagd würde mehr als die Schwarzwildregulation kosten.“ Denn für eine Jagdbehörde wären mindestens zwei Vollzeitstellen nötig, während für die Schwarzwildregulation rund eine Vollzeitstelle aufgewendet wird.
Natur und Tiere werden wieder erlebbar:
Eine Bereicherung für die Bevölkerung
„Für die städtische Bevölkerung ist die Natur eine Bereicherung“, so lautet das Credo von Gilles Mulhauser, dem Leiter des Amtes für Natur und Landschaft. Der Kanton Genf ist mit 500.000 Einwohnern und 30.000 Hunden dicht besiedelt: Es sind suburbane Verhältnisse. Und so spielen nicht nur Schutzgebiete eine große Rolle, sondern auch die Förderung der Stadtnatur und die Naturpädagogik. So informieren an vielen Orten Schautafeln über diesen Lebensraum und seine Bewohner.
Das Programm „Natur in der Stadt“ vernetzt städtische Grünflächen mit dem ländlichen Umfeld und fördert die Anlage von Biotopinseln wie Gärten, Kleingewässer oder begrünte Dächer. Sogar ehemalige Betriebsstandorte werden zu Biotopen umstrukturiert. Für öffentliche Gartenanlagen gilt die „Garten-Charta“ für ökologische Bewirtschaftung und Förderung der Artenvielfalt, der sich über 200 private Kleingärtnerinnen und -gärtner und verschiedene Nichtregierungsorganisationen angeschlossen haben.
Da der Kanton Genf auf einer Länge von 103 Kilometern an Frankreich grenzt, spielt die länderübergreifende Zusammenarbeit zur Erhaltung der ökologischen Verbindungsachsen zwischen den Gebirgslebensräumen im Jura und in den Alpen, dem See und den Feuchtgebieten im Hinterland eine große Rolle - nicht zuletzt für den Hirsch.
Denn durch die Fragmentierung der Landschaft durch die Bebauung und die Autobahnen rund um die Stadt Genf haben die Wildtiere weniger Möglichkeiten zu wandern. Daher spielen Passagen für die Wildtiere in der Zusammenarbeit mit Frankreich eine große Rolle.
Quellen:
Bundesamt für Umwelt BAFU: Vorbild Genf. Aus: Zeitschrift des BAFU Umwelt 2/2013, Thema »Biodiversität«
www.bafu.admin.ch/magazin2013-2-02
Amt für Natur und Landschaft des Kantons Genf
http://ge.ch/nature/
BirdLife International (2012) Important Bird Areas factsheet: River Rhone: Geneva to Verbois reservoir.
www.birdlife.org/datazone/sitefactsheet.php?id=3269
Gottlieb Dandliker, Faunainspektor im Kanton Genf - Vortrag "Jagdverbot: wissenschaftlich möglich und praktisch bewiesen" am 15.10.2013 an der Uni Basel.
www.jagdreguliertnicht.ch
Prof. Dr. Josef H. Reichholf, Vortrag zum Thema «Jägerlatein und Wildbiologie», vom 15.10.2013 an der Uni Basel.
www.jagdreguliertnicht.ch
Der Kanton Genf und seine Biodiversität
Bild: Prospekt des Kanton Genf ·
www.ge.ch/nature/
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