Diese Frage stellte ich mir auch vor zwei Jahren. Zu dem Zeitpunkt war ich glücklich, endlich einen Crosser mein eigen nennen zu dürfen, um dann festzustellen, dass ein Trennscheiben-Schlammnippelgeschoss namens Gravelcrosser die neue Krone der Schöpfung sein soll. Das sorgte erstmal für Verwirrung, da es kein feststehender Begriff ist. Sieht aus wie ein Crosser, aber irgendwie anders. Manchmal will die Neuschöpfung Monstercrosser sein, ein anderes Mal Tourenrennrad oder eine Mutation aus Plusformat mit Straßenbereifung. Alles noch ein wenig plan- und strukturlos, aber eine geile Sache dabei zu sein, wie in kürzester Zeit wieder mal ein neues Radformat entsteht. „Alles kann, nichts muss“ könnte bei uns Endkunden einmal mehr das Feuer entfachen, wieder auf die wilde Jagd nach der eierlegenden Wollmilchsau zu gehen.

Zur Rechtfertigung der Anschaffung meines Crossers gegenüber meines Geldbeutels mussten die Fahrten zur Arbeit über Feldwege herhalten. Als dann mein Genesis da stand, mit seinem gebogenen Rennradlenker und dem filigranen Hinterbau, war schnell klar, dass dieses grazile Etwas mehr kann als nur zur Arbeit fahren. Es machte mir von Anfang an Spaß, auch ohne Arbeitsweg. Als ich das erste Mal über dieses tolle neue Radkonzept namens Gravelcrosser las, war ich total mit dem Thema überfordert. Mir erschloss sich nicht sofort, was so anders sein sollte an diesen Gravelcrossern. Ein Crosser ist halt wie der andere, ein Rennradlenker, dünne Reifen mit beschränktem Profil, jedoch mit Potential zum Schlamm schlachten.

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Die ersten Annäherungsversuche an Neuentwicklungen wie diese haben natürlich immer einen faden Beigeschmack. Es stellt sich die Frage, ob es am Ende doch nur ein weiterer Versuch der Industrie ist, uns des schnöden Mammons Willens eine Radkategorie schmackhaft zu machen? Wie oft müssen immer dieselben Phrasen runtergeleiert werden, bis sich daraus unumstössliche Wahrheiten etabliert haben? Ist es der Versuch, den Crosser-Hype maximal auszuschlachten, oder ist da wirklich was tolles, neues am Start? Sollte diese neue Spezies Rad vielleicht dem Anspruch an das eine Rad, das alles kann, gerechter werden? Ich denke gerne positiv und würde gerne letzteres glauben wollen.

Endgültig gepackt hat mich das Thema auf der Eurobike 2016. Als ich zum ersten Mal das OPEN Cycle U.P. (Unbeaten Path) vor Augen hatte. Mit seinen Möglichkeiten über verschiedene Laufradgrößen und Reifenformate, einen Gravelcrosser oder einen Disc Tourer fahren zu können, wollte ich mich mit dem Thema intensiver auseinander setzen.

Wer sich dem Thema Gravelcrosser nähern will muss sich tiefgründiger mit dem Thema befassen. Zum einen gibt es nicht den übergreifenden Begriff Gravelcrosser. Die Unterschiede liegen meist im Detail und haben großen Einfluß auf das Gesamtkonzept.
Dazu sind die Interpretationen zum Konzept Gravelcrosser weitläufig. Jeder experimentiert mit Winkeln und Maßen und Anbauteilen herum, auf der Suche nach dem Ideal.

Was macht ein Rad zum Gravelcrosser und welche Details machen die Unterschiede zum gewöhnlichen Crosser aus? Zwei Eigenschaften stechen sofort ins Auge, auch für den absoluten Laien. Ein Gravelcrosser hat Scheibenbremsen und eine größere Reifenfreiheit als Cyclocrosser, Adventure-, Pavement- oder Endurance-Bikes. Die anderen Unterschiede kann man nur erfassen und verstehen wenn man sich mit der Idee dahinter näher beschäftigt.

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Ich zitiere hier mal Colin Denis, der meiner Meinung nach das Prinzip Gravelcrosser passend definiert hat:

Ein längerer Radstand sorgt unter anderem für mehr Stabilität. Außerdem sind die meisten Rahmen mit stoßabsorbierenden Features ausgestattet, wie zum Beispiel Specializeds Diverge mit den Zertz-Einlagen. Man könnte jetzt argumentieren, dass ein Cyclo-Cross-Bike nur für kurze Cyclo-Cross-Rennen designt wurde. Man muss also in der Regel nicht viel länger als eine Stunde fahren. Wer jetzt also in eine längere Ausfahrt starten will, wird das mit dem Cyclo-Cross-Bike vielleicht nicht so einfach tun können. Ein Endurance-Bike würde sich definitiv besser eignen. Die Grenze zum Gravel-Bike zu ziehen fällt aber auch an dieser Stelle nicht leicht.

Man darf jetzt natürlich nicht vergessen, dass es nicht um klassisches Offroad-Fahren geht, sondern laut einiger Hersteller vielmehr um Winter-Training, Touren und Pendelfahrten. Insgesamt bieten Gravel-Bikes eine aufrechtere und komfortablere Sitzposition als “echte” Renner. Insgesamt ist Komfort natürlich ein wichtiges Thema. Dementsprechend soll das Design vom Oberrohr und Steuerkopf auch möglichst viel Fahrkomfort bieten.

Ein Cyclocrosser lebt am intensivsten in den 60 Minuten Vollgas während eines Rennens. Ein Crosser muss nicht bequem sein, er muss schnell sein, im verspielten Gelände perfekt zu steuern sein, seine Lastverteilung soll in der optimalen Kraftübertragung enden, und er muss dem Regelwerk des Wettbewerbs entsprechen. Dies alles zusammengenommen macht einen Crosser zu einem perfekten Sportgerät. Mich auf langen Touren bequem und gutmütig zu begleiten ist nicht der Job eines Crossers. Er ist die Wildkatze unter den Geländerädern. Warum nicht sie domestizieren und ihr etwas von ihrer Wildheit nehmen, ohne sie zur Schmusekatze verkommen zu lassen? Gravelcrosser sollen wie Hauskatzen im offenen Vollzug sein, wild und zutraulich zugleich.

Kein schwarz oder weiß soll das Konzept einengen, grau ist aber weder Zustand noch Farbe. Schwarz UND weiß wäre die perfekte Adaption zum Begriffs der eierlegenden Wollmilchsau. Kern des Ganzen wäre es dann, Laufruhe zu generieren und trotzdem nicht träge zu wirken. Ein flacher Lenkwinkel und ein langer Radstand, irgendwo zwischen einem Randonneur und einem Crosser wäre das Ideal. Dazu noch ein etwas tieferes Tretlager um den Schwerpunkt nach unten zu bringen, plus eine entspannte Sitzposition. Der Hinterbau sollte eine Vielzahl an Reifenbreiten zulassen und im Rahmenbau der Mittelweg zwischen leicht und stabil gefunden sein.

Heraus kamen Räder wie das Specialized Crux oder das GT Grade. Sofort gingen einige Ingenieure einen Schritt weiter und so fanden es multifunktional einsetzbare Schätzchen wie das OPEN U.P. oder das Salsa Cutthroat den Weg zum Endkunden. Cannondale sah die Möglichkeit, im Modell Slate eine überarbeitete Lefty in dieses neues Format zu implantieren und der Gabelhersteller Lauf entwickelte die Lauf Grit, eine auf Crosser ausgelegte Gabel mit 30 mm Federweg. Auch kocht jeder da sein eigenes Süppchen, was den Namen der neu geschaffenen Kategorie betrifft. Ein Gravelcrosser kann auch ein New Road, Enduroad oder ein Gravelplus sein.

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Ganz schön wild, so viel Kreativität: gefedert oder nicht, 28 Zoll oder 27,5, Road+ oder Cross+, Crosser, Monstercrosser oder Plus-Randonneur. Auf einmal findet der Rad-Connaisseur für jeden noch so dekadenten Anspruch die passende Ingredienz. Dazu hätten sich die Denkfabriken der Hersteller keinen besseren Zeitpunkt für die Entwicklung eines Geländerads finden können. Ein Rad, das die Gene mehrerer Radkategorien vereint, liegt voll im Trend. Es findet im Moment eine Evolution statt, die hauptsächlich auf zwei Faktoren zurück zuführen ist:

Zum einen erlebt das Querfeldeinrad ein Revival, das so manchen Radhersteller dumm aussehen lässt, weil er es verpasst hat, mit interessanten Modellen die Nachfrage zu bedienen. Es ist dann natürlich bitter mit anzusehen, wie andere das Geschäft machen. Im Vergleich zu den teils stagnierenden Verkäufen im MTB-Bereich, sind die Verkäufe im Bereich der Querfeldeinräder steigend. Zum anderen besteht beim Kunden der Wunsch, ein Rad so vielseitig wie möglich einsetzen zu können. Die Suche nach der eierlegenden Wollmilchsau beschäftigt ja schon Generationen von Radsportenthusiasten. Somit war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Straßenradsport und Mountainbikesport vereinen.

Dazu kommen die vielen kleinen Nischenhersteller, die durch ihren Mut zur Aktion eine Entwicklung vorangetrieben haben, vor denen sich die Großen der Branche nicht verschliessen konnten. Damit ist auch schon die Frage beantwortet, ob sich das neue Format durchsetzen wird oder nicht. Ich bin davon überzeugt, dass es das tun wird. Ein so vielseitiges Rad, das den Bogen von der Straße über unbefestigte Wege ins Gelände spannt, ist zum Erfolg verdammt. Dazu bietet es Rennradfahrern wie Mountainbikefahrern die Möglichkeit, Ausflüge ins Gelände des Anderen zu machen, ohne das, was das gewohnte Sportgerät ausmacht, aufgeben zu müssen. Zwar müssen der Rennradfahrer als auch der Mountainbiker Kompromisse eingehen, aber das ist wohl zu verschmerzen.

Für viele von uns, die einen Keller voller Räder haben, mag es keinen Sinn machen, ein Rad zu haben, was drei andere ersetzt. Jedoch sind wir auch nicht repräsentativ. Der Hobbysportler, der seine Freizeit mit nur einem Rad verbringt, könnte mit den Möglichkeiten des Gravelcrossers seinen Erlebnishorizont um ein Vielfaches erweitern. Im Gegensatz zu vielen anderen Entwicklungen der letzten Jahre, die es nie aus ihrem Nischendasein heraus geschafft haben, wird hoffentlich hier und jetzt mal eine Entwicklung für die breite Masse stattfinden. Vor allen Dingen deshalb, da nun ein Rad mit einer Geometrie den Markt besetzt, die es auch Rennradfahrern ohne große Umstellung ermöglicht, von der Straße ins Gelände zu wechseln.

#6
# #6

Nun muss man nur noch der breiten Masse diese Entwicklung näherbringen. Wir in der Redaktion haben uns schon mit einigen Beiträgen zum Thema Crosser in den News eingebracht. Ich will mich nun mit dem Thema Gravelcrosser eingehender befassen und darum haben wir uns entschieden, in einem intensiven Test dem Konzept Gravelcrosser auf den Zahn zu fühlen.

In den nächsten Wochen werde ich Euch in den News meine Idee zu Thema Gravelcrosser vorstellen und dann werden wir herausfinden, was ein Gravelcrosser kann. Für alle, die einen kleinen Vorgeschmack haben wollen, auf das was kommt, empfehle ich den Aufbauthread zum Rad. Ihr Name ist Biergrit.

In diesem Sinne, Think Pink – Eure Muschi

Anmerkung: Für den Inhalt der Artikel aus der Serie “Muschi am Mittwoch” ist der benannte Autor verantwortlich. Die in den Artikeln vertretenen Ansichten und Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider. Für Anregungen und Kritik steht der Autor hier themenbezogen in den Kommentaren und allgemein per privater Nachricht zur Verfügung.

Fotos: Andrea Kabil, „Muschis Mythos Fahrerfrau“
  1. benutzerbild

    OldShatterhand81

    dabei seit 10/2008

    Hättest du direkt etwas differenzierter geschrieben wie in den letzten beiden Posts, hätte ich garkeinen Post verfasst.smilie Kam für mich halt so rüber wie ich es geschildert habe und "von der Sorte" haben wir hier leider (gefühlt) ettliche User. Daher von meiner Seite aus sorry und nix für ungut.smilie

  2. benutzerbild

    le-canard

    dabei seit 10/2016

    Der GT-ähnliche Entenschwanz ist Design
    Yes!!! Entenschwanz, das gefällt mir. Danke dafür smilie
  3. benutzerbild

    whitewater

    dabei seit 06/2009

  4. benutzerbild

    olev

    dabei seit 07/2008

    obwohl der Herr ziemlich abgeneigt scheint, hat er es eigentlich begriffen:
    "Aber die Geschmäcker sind nun mal verschieden: Für den Rennlenker sprechen in erster Linie die verschiedenen möglichen Greifpositionen, speziell wenn sich die Tour etwas in die Länge zieht. Denn während beim Mountainbike die Fahrtechnik, um nicht zu sagen eine gewisse Artistik der Geländebewältigung, im Vordergrund steht, ist der Reiz beim Gravelbike, ob mit oder ohne Gepäck, wie beim Rennrad überhaupt das Touren – nur eben ohne sich großartige Gedanken über den Fahrbahnzustand machen zu müssen."

    Etwa gleichzeitig mit Muschis Text ist das da erschienen: http://www.bikepacking.com/bikes/salsa-warbird-review/
    Da ist ein ähnlicher Ansatz wie bei Muschi zu erkennen: "The Warbird didn’t quite match some of the terrain we rode, but I will say that there is no single bike that would perfectly fit this route. At times it’s ideal for a full-squisher, at others a carbon road bike, and, sometimes, even an ultra-granny geared touring rig would fit the bill."

    Scheinbar finden hier die meisten: Das Bike muss zur schwierigsten erwarteten Stelle passen. "'Screw that, just ride a bike that’s burly enough for everything.'" Man kann die Sache aber auch von der anderen Seite angehen und ein Rad nehmen, das die schwierigste Stelle grad so noch schafft, dafür sonst nicht unterfordert ist.

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