Böses Dorf
Schrill wie ein grellowes Fat, schräg wie ein Slingshot, schön wie ein gelötetes Ritchey, witzig wie ein Salsa, eigenwillig wie viele Schatz-Kisten, die in den Kellern der Classic-Gemeinde schlummern, so sind die Perlen der Radliteratur in diesem Buch. Zugreifen, zugreifen, zugreifen, und Weihnachten ist gerettet!
Die Stories
Amalie Rother rät ihren vermutlich schockierten Zeitgenossinnen 1897 in einem Ratgeber über zünftiges Tourenradeln, eine Hose zu tragen und weiß zu berichten, dass ein Schluck vom allerbesten Cognac oder Rum von geradezu zauberhafter Wirkung bei äußerster Ermüdung und Abspannung ist; Fabrikant Johann Puch doziert zum Thema Freilauf, dass ich jede Zeit, die mit dieser Erfindung vergeudet wurde, für verloren erachte; Mark Twain schildert, wie er den Frontantrieb zähmte (Nimm ein Hochrad. Du wirst es nicht bereuen, falls du es überlebst); der hochbetagte Henry Miller trauert seinem Chemnitzer Bahnrennrad nach, dass er in den 20er, 30er Jahren einem deutschen Fahrer im Madison Square Garden nach einem Sechstagerennen abgekauft hatte; Jerome K. Jerome lässt sich über Radwerbung aus, die dem unschlüssigen Anfänger suggeriere, dass man beim Radfahrsport auf einem luxuriösen
Sattel ruht und sich von unsichtbaren himmlischen Mächten in jede gewünschte Richtung bewegen lässt; Journalisten-Ikone Egon Erwin Kisch reportiert vom zehnten Sechsragerennen in der Potsdamer Straße in Berlin. Und mit das Beste ist...
Testfahrt
...Flann OBrien. Ein Ausschnitt aus Neue irische Chemie:
Der Sergeant trank zierlich, tief in Gedanken versunken. Michael Gilhaney, einer meiner Bekannten, sagte er schließlich, ist ein Mensch, den das Wirken der Mollykül-Theorie schon fast erledigt hat. Würde es Sie ominös verwundern, wenn Sie erführen, dass er auf dem besten Wege in der Gefahr schwebt, ein Fahrrad zu sein?
Mick schüttelte in höflichem Unverständnis den Kopf.
Er ist nach einfacher Berechnung fast sechzig Jahre alt, sagte der Sergeant, und wenn er noch er selber ist, hat er nicht weniger als 35 Jahre auf dem Fahrrad verbracht, über die steinigen Feldwege und die unnachgiebigen Hügel hinauf und hinab und hinein in die tiefen Gräben, wenn sich die Straße unter der Mühsal des Winters verliert. Ständig ist er zu jeder Stunde des Tages unterwegs und fährt hierhin oder dorthin, und zu jeder zweiten Stunde des Tages kommt er mit seinem Fahrrad von hierher oder dorther zurück. Wenn ihm nicht jeden Montag das Fahrrad gestohlen würde, wäre es ihm sicher schon halbwegs gelungen.
Was wäre ihm gelungen?
Selber ein gottverdammtes Fahrrad zu sein.
Hatte Sergeant Fottrell sich für einmal dazu verstiegen, trunken draufloszureden? Seine Grillen waren für gewöhnlich amüsant, aber weniger gut, wenn sie keine Bedeutung hatten. Als Mick etwas sagte, das darauf abzielte, starrte ihn der Sergeant ungeduldig an.
Haben Sie je als junger Bursch die Mollykül-Theorie studiert? fragte er. Mick sagte: nein, zumindest nicht eingehend.
Das ist eine sehr ernste Unterschlagung und schwerwiegende Verschlimmerung, sagte er rau, aber ich werde Ihnen sagen, wie es sich damit verhält. Alles besteht aus kleinen Mollykülen seiner selbst, und diese fliegen in konzentrischen Kreisen herum und in hohem Bogen und in Segmenten und unzähligen anderen Routen, zu zahlreich, sie kollektiv zu erwähnen, stehen dabei nie still oder ruhen sich aus, sondern sie flitzen davon und trudeln mal hier-, mal dorthin und sofort wieder zurück, immer auf Achse. Folgen Sie mir soweit verständnisinnig? Mollyküle?
Ich glaube schon.
Sie sind so munter wie zwanzig ungeratene Kobolde, die auf einem flachen Grabstein Reigen tanzen. Nun nehmen Sie mal ein Schaf an. Was ist ein Schaf anderes als Millionen kleiner Teilchen von Schafsmäßigkeit, die durcheinander wirbeln und innerhalb des armen Tieres verzwickte Konvulsionen aufführen? Na? Was?
Sehr wahr, entschloss sich Mick zu sagen.
Wenn man heftig genug und oft genug mit einem eisernen Hammer auf einen Stein schlägt, werden einige Mollyküle des Steins in den Hammer gehen, sowie ebensowohl umgekehrt.
Das ist wohlbekannt, pflichtete er bei.
Das Brutto- und Nettoresultat davon ist, dass die Persönlichkeit von Menschen, die die meiste Zeit ihres natürlichen Lebens damit verbringen, die steinigen Feldwege dieses Landkreises mit eisernen Fahrrädern zu befahren, sich mit der Persönlichkeit ihrer Fahrräder vermischt: ein Ergebnis des wechselseitigen Austauschs von Mollykülen, und Sie wären erstaunt über die große Zahl von Leuten in dieser Gegend, die beinahe halb Mensch, halb Fahrrad sind.
Mick keuchte leicht vor Erstaunen, und das machte ein Geräusch wie Luft, die aus einem schadhaften
Reifen austritt.
Guter Gott, ich vermute, Sie haben recht.
Und Sie wären unsagbar baff, wenn Sie die genaue Zahl stämmiger Fahrräder kennten, die heiter am menschlichen Leben Anteil nehmen....
Dämpferrate
Stämmige Fahrräder, die heiter am menschlichen Leben Anteil nehmen etwa imWohn- oder Schlafzimmer, sind für hiesige Forumsmitglieder sicherlich nichts Bemerkenswertes. Bemerkenswert ist hingegen die Recherchearbeit von Prof. Dr. Hans-Erhard Lessing, der Welt- und Fachliteratur durchforstet und diese Sammlung zusammengetragen hat. Der Mannheimer Physikprofessor und Design- und Technikhistoriker ist ohne Zweifel ein Radhead, das beweist die feinfühlige Auswahl an Geschichten. Damit ist für beste Unterhaltung gesorgt, kurzweilig, witzig und gar lehrreich sofern man zum Blick über den Zaun geneigt ist. Wer mit Fahrradhistorie ausschließlich Fisher, Kelly & Co. meint, zieht den Kürzeren. Aber es ist auch schlicht spannend, wenn Simone de Beauvoir von ihrer mehrwöchigen Radtour mit Sartre durch den von Deutschen unbesetzten Südteil Frankreichs berichtet (und dabei durch einen schlichten Fahrfehler ihre Todesangst verliert).
Zugegeben auch: Es gibt Tiefschläge. Wie Arno Schmidts Interpunktions-Stakkato, in dem er eine Radtour mit seiner Dämonin beschreibt, die im Gewitter unterm Baum endet (/Wir köpften uns in ein Fichticht. Hockten unter das barbije Weir (= knochiges Drahthaar) der unten-Erstorbenen. Und warteten eben. -.-./- -. /: Pause.). Aber vielleicht reicht dazu auch nur meine bescheidene Bürgerbildung nicht aus-.-. Egal!
Serviervorschlag für die Feiertage: Buch mit einem wohltemperierten Roten auf der Couch degustieren.
Verarbeitung
Taschenbuch, so what?
Technische Daten
Hans-Erhard Lessing: Ich fahr so gerne Rad... Geschichten von der Lust, auf dem eisernen Rosse dahinzujagen. 296 Seiten, Dt. Taschenbuchverlag (dtv) 1995, 9 Euro (ISBN 3-423-20527-X)