29 Plus Reifen: Self steering, Lenkgeometrie und mehr

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Gerade bei breiten Reifen und wenig Luftdruck tritt Self Steering immer wieder mal auf. Hier möchte ich meine Erfahrungen dazu beschreiben und wieso gerade bei 29+ Reifen dies eher passiert als bei kleineren Raddurchmessern. Ergänzungen bzw Berichtigungen sind jederzeit willkommen. Ferner gibt es mehr Theorie und Praxis zu Eigenschaften von 29 Plus Reifen.

THEORIE (bitte weiter unten weiterlesen unter PRAXIS, falls zu langfädig oder kompliziert...)
Was ist Self Steering?
Wenn man einlenkt und eine gut spürbare Kraft notwendig ist, um den gewählten Einlenkwinkel aufrecht zu erhalten, spricht man von Self Steering: Entweder würde beim Loslassen des Lenkers das Vorderrad sich wieder in Richtung Geradeauslauf stellen oder es würde noch weiter einlenken.
Dieses Phänomen tritt meist bei tiefem Luftdruck und breiten Reifen auf und ist abhängig von folgenden Punkten:
-Form des Reifens im Querschnitt (eher flache Wölbung der Noppen, die Bodenkontakt haben oder eher runde Form dieser Profilnoppen). Diese Form wiederum ist bei jedem Reifen von der Felgeninnenbreite abhängig und indirekt vom Luftdruck, da die natürliche Form bei tiefem Druck gequetscht wird.
-Lenkwinkel und Gabelvorbiegung (rake) und Raddurchmesser mit gepumpten Reifen: Diese drei Grössen bestimmen den Gabelnachlauf, die Distanz des Reifenkontaktpunktes auf dem Boden mit der theoretischen Verlängerung des Steuerrohrs bis zum Boden. Bei gegebenem Lenkwinkel und Gabelvorbiegung ist der Nachlauf umso grösser, je grösser der Reifendurchmesser ist. Bei gegebenem Lenkwinkel und Reifendurchmesser ist der Nachlauf umso kleiner, je grösser die Gabelvorbiegung (rake) ist.
-Position der Lenkergriffe senkrecht zur Steuerrohrmitte gemessen bzw indirekt die Vorbaulänge: Diese Grösse bestimmt den Abstand der Handposition zur Lenkachse (direkte Verbindung beider Hände) und somit auch, wie stark man self steering bemerkt (Hebel grösser oder kleiner etc). Eine Regel aus meinen Erfahrungswerten: Je flacher der Lenkwinkel, desto kürzer muss der Vorbau sein, damit die Lenkung beim Hochfahren in engen Kehren nicht abkippt (von selbst stärker einlenkt).

Was passiert beim Einlenken? Rein physikalisch ist daseine recht komplexe Sache: Bei einem flachen Lenkwinkel und grossen Nachlauf (kleiner Gabelvorbiegung und grosser Raddurchmesser) wandert beim Einlenken nach links der Reifenaufstandspunkt (Kontakt Reifen mit Boden) nach rechts und auch ohne, dass das Fahrrad nach links gekippt wird, sinkt die Front des Bikes nach unten (wenn das Bike im Montageständer eingespannt wäre, würde beim Einlenken nach links der tiefste Punkt des Reifens nach rechts oben wandern). Wenn der Reifen perfekt rund wäre im Querschnitt, würde beim Fahren mit in die Kurve gekipptem Bike das Vorderrad noch weiter einlenken wollen, weil die Front beim Einlenken nach unten sinkt, der Schwerpunkt so tiefer wäre und bei noch stärkerem Einlenker noch tiefer würde (ohne Gegenkraft gehen alle Gegenstände immer in die tiefstmögliche Position, die Kugel rollt nach unten...).
Weil aber die Reifen - vor allem breite Reifen - im Querschnitt eher flach sind, erhöht sich beim Kippen des Bikes in die Kurve der Abstand vom Bikeschwerpunkt zum Schnittpunkt Boden - wirkende Kraftlinie des Schwerpunkts, was (teilweise) eine Tendenz zum stärker Einlenken kompensiert.
Es passiert aber noch mehr: Je stärker man einlenkt, desto kleiner wird der Nachlauf und desto schwächer der Effekt des Absenkens des Bikes beim Einlenken bei runder Reifenform.

Sämtliche Effekte intuitiv zu erfassen, ist schwierig, deshalb eine kurze Zusammenfassung meiner Beobachtungen:

PRAXIS

Die Tendenz, dass der Reifen beim Einlenken noch mehr einlenken möchte (man muss mit dem Lenker aktiv dagegen halten, tritt bevorzugt auf bei:
1) flachem Lenkwinkel und grossem Nachlauf
2) rundem Reifenquerschnitt
3) wenig Luftdruck
4) wenig stabiler Karkasse

Zu 1) wenn ich am selben Bike eine Gabel mit mehr Vorbiegung (rake) fahre, somit der Nachlauf kürzer wird, hat ein Reifen, der vorher deutliches Self Steering zeigte, danach spürbar weniger Self Steering bei demselben Luftdruck. Das ist super zu spüren bei einer Starrgabel mit Jeff Jones 76mm Vorbiegung im Vergleich zu einer Standard Starrgabel selber Bauhöhe mit 44mm Vorbiegung. Ein Maxxis Chronicle 29x3 zeigte mit der 76mm rake Gabel kaum self steering mit 0.7 Bar auf i45 Felgen mit 69 Grad Lenkwinkel, während er mit der 44mm rake Gabel schon spürbar die Tendenz zeigte, mehr einlenken zu wollen auf der Teerabfahrt.

Zu 2) Ganz krasses self steering zeigt der Schwalbe G One Speed 29x2.35 mit sehr rundem Querschnitt und sehr leichter Karkasse auf einer i30 Felge, wenn er mit wenig Druck gefahren wird. Hier trifft die runde Form auf eine superleicht Karkasse, die bei wenig Druck sehr leicht verformbar ist und in dieser Kombi sehr gewöhnungsbedürftig ist.
Genau das Gegenteil ist der Vittoria Cannoli 29x3 mit ultrastabiler Karkasse und flachem Querschnitt auf einer i40 Felge, der selbst mit sehr wenig Druck (0.65 Bar) auch bei grossem Nachlauf (69 Grad Lenkwinkel , 44mm rake) kein spürbares self steering zeigt.

Zu 3) und 4) Bei wenig Druck und wenig stabiler Karkasse gibt auch der Reifen mit flacherem Querschnitt in der Kurve schneller nach bzw wird zusammengedrückt und verhält sich wie ein Reifen mit eher rundem Querschnitt. Je breiter die Felge innen, desto besser kann dies teilweise kompensiert werden.

Für 29 Plus Hardtails mit Starrgabel, die auch in gröberem Gelände eingesetzt werden, heisst das für mich persönlich folgendes:

Ich möchte einen Vorderradreifen mit
A) sehr guter Dämpfung
B) gutem Komfort bei für diesen Reifen sinnvollem tiefem Luftdruck
C) sehr gutem Kurvenhalt und guter Bremstraktion auf trockenem und nassem Untergrund inkl Jurakalksteinen, Schotterwaldwegen, Waldbodenwegen und noch guter Traktion auf nassen Wurzeln
D) wenig self steering bei tiefem Luftdruck
E) nicht allzu starken Vibrationen beim Rollen auf hartem Untergrund die zum Teil durch grosse, weit auseinander liegende Stollen entstehen

Erläuterungen zu A) bis E):
A) Reifen mit wenig Dämpfung neigen zum Springen bei tiefem Luftdruck, das macht vor allem bei schnellen Fahrten über steinige Wege das Bike schlecht kontrollierbar, da das Vorderrad immer wieder Bodenkontakt verliert. Gewisse Reifen fahre ich deshalb mit mehr Druck, als vom Durchschlagschutz her (oder self steering) erforderlich.
Mehr Dämpfung im Reifen heisst meist aber auch mehr Rollwiderstand
B) Für den Komfort ist nebst dem Druck die Reifenform (inkl effektiver Höhe und Breite) , die vertikale Verformbarkeit der Karkasse und A) Dämpfung relevant
C) Profilform /-grösse und Anordnung nebst Gummimischung und Reifenform sind nebst dem Luftdruck dafür relevant
D) siehe ganz oben
E) grosse, weit auseinander liegende Stollen sind für die Selbstreinigung bei Schlamm gut, verursachen aber oft für mich unangenehme Vibrationen beim Fahren auf Teer oder ebenen Waldwegen mit hartem Untergrund. Nach meinen Erfahrungen haben Reifen mit vielen kleineren Profilblöcken sowohl bei nassem, steinigem oder felsigen Untergrund als auch auf Wegen mit losen Steinen, Steinchen und Kieseln mehr (Seiten-) halt als Reifen mit wenigen grossen Profilblöcken.

Beim Hinterradreifen ist mir ein geringer Rollwiderstand wichtiger als Dämpfung oder Seitenhalt und weil gute Dämpfung und geringer Rollwiderstand sich meist schlecht kombinieren lassen, heisst das für mich, dass ich am Vorderrad und am Hinterrad sicher verschiedene Reifen fahren muss.

In weiteren Beiträgen unter diesem Titel werde ich später meine Erfahrungen mit diversen 29 Plus Reifen beschreiben
 
Hilfreichster Beitrag geschrieben von Dani

Hilfreich
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Was ich oben nicht explizit erwähnt hatte, ist die Tatsache, dass trotz deutlich grösserem Raddurchmesser von 29 plus Reifen die meisten Hersteller die Gabelvorbiegung nicht vergrössert haben, um den grösseren Nachlauf der grösseren Reifen zu kompensieren.
Einzig Jeff Jones hatvdas meines Wissens getan. Das ist mit ein Grund, wieso sich viele 29 plus Bikes träger lenken.
 
Hilfreichster Beitrag geschrieben von Dani

Hilfreich
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Zunächst möchte ich Dani für die schon wissenschaftlichen Erläuterungen danken! Super!

Wer kann eine Reifenempfehlung geben?

Für´s Gelände fahre ich einen WTB Ranger 29x3.0 light auf Felgen mit 46mm Maulweite in einer Starrgabel. Mit dem Reifen bin ich sehr zufrieden (Grip, Komfort, Rollwiderstand, Gewicht), aber das Selfsteerung ist der große Nachteil. Würde eine schmalere Felge Besserung bringen? Wie verhält sich der Panaracer Nimbus im Vergleich zum Ranger? Wer hat schon beide Reifen gefahren?

Auf dem Strassenlaufradsatz habe ich ein Schwalbe G-one 29x2,35 auf einer 29mm Felge montiert. Ebenfalls extremes Selfsteering. Gibt es auch für diesen Einsatzzweck vergleichbare Reifen mit niedrigen Rollwiderstand mit besseren Eigenschaften?

Für jede Antwort danke ich im Voraus.

Dietbert
 
Zuletzt bearbeitet:
XR2 auf einer Hugo (~50 innen).
self steering hab ich erst wenn ich den reifen schon mit wenig kraft per hand bis auf die felge drücken kann.
<0.5bar

schmalere felge ist aus meiner erfahrung kontraproduktiv.
profil wird runder und seitenstabilität nimmt ab.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Zunächst möchte ich Dani für die schon wissenschaftlichen Erläuterungen danken! Super!

Wer kann eine Reifenempfehlung geben?

Für´s Gelände fahre ich einen WTB Ranger 29x3.0 light auf Felgen mit 50mm Maulweite in einer Starrgabel. Mit dem Reifen bin ich sehr zufrieden (Grip, Komfort, Rollwiderstand, Gewicht), aber das Selfsteerung ist der große Nachteil. Würde eine schmalere Felge Besserung bringen? Wie verhält sich der Panaracer Nimbus im Vergleich zum Ranger? Wer hat schon beide Reifen gefahren?



Für jede Antwort danke ich im Voraus.

Dietbert
Vittoria Mezcal 29x2.6 baut annähernd so gross wie der Ranger, rollt super und mit dem Grip bin ich mehr als zufrieden. Ich fahre ihn auf einer Felge mit Innenbreite 40mm, Null self steering auch bei tiefem Luftdruck.
 
Auf dem Strassenlaufradsatz habe ich ein Schwalbe G-one 29x2,35 auf einer 29mm Felge montiert. Ebenfalls extremes Selfsteering. Gibt es auch für diesen Einsatzzweck vergleichbare Reifen mit niedrigen Rollwiderstand mit besseren Eigenschaften?
Racing Ray/Ralph, evtl auch ein Thunder Burt, falls es den in 2.4 gibt.
 
WTB-Ranger light 3.0 auf 35 mm Felge und Starrgabel. 0 self steering, Luftdruck zwischen 1.1 und 0.8
Erstaunlich! Mein Ranger 3.0 light sitzt auf einer 46mm Felge und zickt rum. Dann liegt es vermutlich an der ungünstigen Geo des Salsa Woodsmoke bzw der Carbonstarrgabel. Aber es ist auch Gewöhnungssache. Wenn ich mehrere Tage mit dem Bike fahre, gewöhne ich mich sehr schnell daran. Aber bei unterschiedlich genutzten Bikes stört es mich dann schon.
 
Vittoria Mezcal 29x2.6 baut annähernd so gross wie der Ranger, rollt super und mit dem Grip bin ich mehr als zufrieden. Ich fahre ihn auf einer Felge mit Innenbreite 40mm, Null self steering auch bei tiefem Luftdruck.
Der Mezcal sieht sehr interessant aus. Allerdings scheint mir meine Felge mit 46mm innen etwas zu breit für einen 2,6er Reifen. Wie ist denn der Rollwiderstand im Vergleich zum Ranger light einzuschätzen? Eigentlich müsste er auf Asphalt durch die engen Mittelstollen noch besser rollen?
 
Der Mezcal sieht sehr interessant aus. Allerdings scheint mir meine Felge mit 46mm innen etwas zu breit für einen 2,6er Reifen. Wie ist denn der Rollwiderstand im Vergleich zum Ranger light einzuschätzen? Eigentlich müsste er auf Asphalt durch die engen Mittelstollen noch besser rollen?
Ich bin den Ranger light schon längere Zeit nicht mehr gefahren und aus dem Gedächtnis ist es schwer, den Rollwiderstandsvergleich zu machen. Der Mezcal hält aber viel länger als der Ranger. Wie der Mezcal sich auf der i46 Felge macht, kann ich nicht einschätzen.
 
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