Es ist Montag, 4:30. Heutiges Ziel: zu Hause sein bevor die Kinder aus der Schule zurückkommen (habe ich ihnen versprochen).
Das Cutthie wollte eigentlich die kleinen Strässchen am
Monte Pian Nave und dem Monte Nudo anpurzeln (und ich dort oben den Sonnenaufgang angucken) und dann in Domodossola auf den Zug, aber in Luino merke ich, dass ich 1) zu fest Kohldampf habe (mal wieder unbefrühstückt los...) um gross zu steigen und 2) ich wohl zu spät wäre für den Sonnenaufgang. Zudem ist unser Sohn gestern halb krank schlafen gegangen, und falls er jetzt ganz krank ist, möchte ich schnellstmöglich zu Hause sein. Also peile ich direkt die Fähre in Laveno an.
Drei Minuten vor Abfahrt der 6 Uhr-Fähre komme ich beim Hafen an: Billet ergattert, Maske aufgesetzt, eingeschifft! Und sogleich Maske abgesetzt um was zu mampfen 😋
Was für ein Glücksfall, dass es mir auf diesen Kurs gereicht hat: die Stimmung ist
Fähren und Störche haben eine Gemeinsamkeit: sie versetzen mich Bergler in Ekstase, denn allzu selten komme ich in Kontakt mit ihnen
Ab Verbania radle ich weiter Richtung Domodossola. Hm, der morgendliche Bergwind scheint im Valle d'Ossola wesentlich stärker zu sein als im Wallis... Hm, diese Wolken über dem Alpenhauptkamm... Hm, meine Frau schreibt mir, dass es im Wallis regnet... Aaah, das ist kein Bergwind, das ist Nordföhn! Im Gegensatz zum Bergwind wird der im Verlaufe des Vormittags kaum aufhören - Scheibenkleister!
Nach 70 km mit ziemlich viel Gegenwind erreiche ich vor 9 Uhr Domodossola. Das
Centovalli-Bähnchen und die Aussicht ins
Valle Antigorio erinnern mich an frühere Touren.
Was nun? Der Bub ist gesund, ufff

Über den Simplon? Oder das
Longbike abholen, in welches ich mich letzte Woche verliebt und gestern ersteigert habe? Ich rufe mal den Verkäufer an. Der faule Hund in mir wünscht sich, dass es mit dem Abholen klappt, die wilde Sau wünscht sich, dass es nicht klappt. Der Verkäufer nimmt nicht ab - also Simplon, die wilde Sau freut sich auf 1800 Hm

Ich kaufe am Bahnhof noch Proviant, checke nochmals die Exit-Optionen (Zug ab Iselle um 14:16; Postauto ab Gondo um 13:17) und mache mich auf den Weg. In meiner übermüdeten Flashigkeit hört sich das Tuten eines Güterzugs wie die Hörner der Reiter Rohans an, und ich höre König Théoden rufen:
Arise, arise, Riders of Théoden! Spear shall be shaken, shield shall be splintered [...] Ride now, ride now, ride! [...].
Ok, lassen wir den pathetischen Seich

Denn vor Varzo höre ich ein anderes Geräusch: mein Antrieb knarzt ein bisschen - und ich mein Ölfläschchen ist leer. Ich schaue bei einer Garage rein, und der Besitzer findet in seiner doch recht chaotischen Werkstatt tatsächlich den passenden Stoff. Was für eine Wohltat fürs Ohr und die Motivation! Herzlichen Dank an den Garagisten!
Da hier eh schon viel Text steht und das Thema Motivation auch schon angeschnitten ist: wie kommt man mit schlappen Beinen über eine grossen Pass? In meiner übermüdeten Flashigkeit sehe ich an diesem Montag drei Punkte:
1) Man ist nicht der erste, der über den Pass geht. Vor einem sind schon tausende drüber (und auch ein paar umgekehrt), viele viele waren müder und sehr sehr oft in vielfach grösserer Not als ich. Also: alles easy, grundsätzlich habe ich kein Problem.
2) Das Leid bzw. die Quälerei widmen (Buddhistentrick): "Möge das Leid bzw. die Quälerei, welche ich erfahre, dazu dienen, dass andere solches oder ähnliches Leid nicht erfahren müssen" (vor allem Leute, die Schwierigkeiten wie Pässe aus Not und nicht aus Spass angehen 🙏).
3) Die kleinen Dinge geniessen: Blumen am Wegrand, Wasser im Fluss, Wolken am Himmel
So, bevor wir diesen schönen Faden in "drWalliser's kleines Esoterikseminar" umbenennen müssen, wenden wir uns vier trockenen Tatsachen des 17. Mai 2021 zu.
1) Die Schweiz existiert noch, und man kann problemlos einreisen:
2) Der Simplon hat viele Galerien:
3) Verkehr hat es nicht viel (Corona? Montag?), und die paar Lastwagen überholen extrem rücksichtsvoll (über ein paar PKWs hüllen wir mal den Mantel des Schweigens...):
4) Der Nordföhn tobt, dass es sich gewaschen hat

Nur um es klarzustellen: meine Fahrtrichtung entspricht in diesem Bild "linker Bildrand >> rechter Bildrand"

):
Ich führte den Simplon auf meiner To-Do-Liste immer sehr weit hinten: Der Verkehr! Die Galerien! Aber wie schon gesagt: Wenig Verkehr. Und die Galerien? In denen hat man wenigstens ein paar Minuten Ruhe vor dem Föhnsturm

Und diese Landschaft! Zwischendurch kann ich nicht anders und muss ein "huere geil" in die Weite rufen
Beim Engiloch fängt es auch noch an leicht zu schneien, und der Wind ist nach wie vor sehr brutal. Zum Glück ist ausser mir niemand unterwegs, so kann ich zu einem alten
Tennisspielertrick greifen zwecks Leistungssteigerung
Beim alten Hospiz lässt der Wind endlich nach - herrlich!
Aber Halt, was ist denn da los? Die Strasse führt beim Hospiz gar nicht weiter? Ja aber wo geht sie dann durch?? Aha, über dieses Kasernenareal
Die beiden Wachsoldaten erklären mir, dass a) ich das Areal nicht unbegleitet durchqueren darf und b) sie ihren Posten nicht verlassen dürfen. Also telefonieren und funken sie herum, damit mich zwei ihrer Kollegen zu Fuss durchs Areal begleiten. Falls dieses Areal bis zum Pass reicht, kann ich mir das Vor-den-Kinder-zu-Hause-sein in den Kamin schreiben... Ich kenne mich nun doch schon ein paar Jährchen und bin ganz erstaunt, dass ich mich nicht aufrege

Aber es gibt auch gar keinen Grund zur Aufregung, denn es geht nur über den hier gezeigten Platz, danach bin ich wieder frei. Dank der kleinen Zwangspause jucke ich die restlichen Höhenmeter erquickt und fröhlich hoch.
Und dann sind die Steigungen dieses Doppel-Alpencross erledigt
Es folgt die volltolle Abfahrt nach Brig, inklusive der Überquerung der wunderschönen Ganterbrücke:
In Brig gönne ich mir eine Glace und ein Zugticket nach Sion. Zum Abschluss muss ich noch ins Dorf hochfahren, was ich nur dank
musikalischem Doping schaffe (den Tennistrick wollte ich in meinem Dorf lieber nicht anwenden

).
Ich bin 5 Minuten vor den Kindern zu Hause
Hier habe ich die Route mal in Brouter nachgezeichnet. Die Anzahl Höhenmeter ist zwar eine schöne Zahl, in der Realität war es aber sicher deutlich weniger - Brouter scheint bei den Höhenmeter viel ungenauer zu sein als die SchweizMobil-App (welche aber in Italien nicht funktioniert). Komoot meint: 2380 Hm. Bei den Kilometern müssen noch 4.5 km für die Fähre abgezogen werden
So, das wars von dieser kleinen Tour, danke fürs Mitreisen!
Zürich – Brig: Tag 0 - 1 - 2 (a) - 3 - 4 - hier - Extra