Ich stehe morgens um halb drei auf, ziehe mich an und fahre los. Da ich am Vorabend alles vorbereitet habe, bin ich sehr schnell unterwegs. Das ist auch gut, denn es liegt ein ordentliches Stück Weg vor mir. Nach wenigen Kilometern mache ich ein fixes Abschiedsbild bei den Bremer Stadtmusikanten und fahre dann das erste Stück zügig durch.
Die Fahrt durch die Nacht zieht sich, und meine Lichtmontage ist nicht ideal. Die Vorschrift, dass der Lichtkegel maximal 10m vor dem Fahrrad zu enden habe, erfülle ich mit Bravour. Zum Glück ist wirklich wenig Verkehr und die Dämmerung setzt auch bald ein, ich komme gut voran. Dennoch überlege ich, ob ich nicht vielleicht doch besser mein anderes Fahrrad mit Nabendynamo und Licht, Schutzblechen und Gepäckträger, das eigentlich viel besser zum Reisen geeignet ist, hätte nutzen sollen. Später werde ich froh sein, dass ich meine Wahl so getroffen habe, wie ich sie getroffen habe: Das mangelnde Licht wird sich als das geringere Übel erweisen.
Nach einer Weile kommt der erste Hunger auf, aber ich schiebe ihn beiseite, bis ich durch einen größeren Ort komme. Das ist Meppen. Dort finde ich ein Bäckerei-Café auf dem Marktplatz und mache meine erste Pause. Ich bin jetzt etwa 130km gefahren.
Von Meppen ist es nicht mehr weit bis zur Grenze, die ich nach 150km passiere. Ich fahre über eine Nebenstraße, bunte Willkommensschilder gibt es hier nicht. Das erste, was auffällt, sind die etwas anders gestalteten Verkehrszeichen und im ersten Ort sofort die Architektur der niederländischen Häuser. Während ich in Deutschland noch auf der Fahrbahn von Landstraßen gefahren bin, wechsele ich jetzt auf niederländische Fahrrad-Verkehrswegenetz.
Was ich bei meiner Planung nicht bedacht habe: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Baustellensperrungen flexibel zu handhaben sind und man immer irgendwie durch- oder vorbeikommt. Da sehr selten an Fahrräder gedacht wird, und Umleitungen daher selten existieren, ignoriere ich Sperrungen mittlerweile komplett. Das scheitert aber, wenn am Deich gearbeitet wird und in die Fahrbahn eine neue Brücke eingesetzt wird. Und zu allem Überfluss war das erste Warnschild, das zum Umfahren aufforderte, schon mehrere Kilometer hinter mir. Ich müsste dorthin zurück, auf die andere Seite des Kanals, und dort an der Baustelle vorbeifahren. Ich treffe einen Arbeiter, kann mich mit ihm aber nur mäßig verständigen und schiebe schließlich eher toleriert als willkommen und mit schlechtem Gewissen über die Baufahrbahn aus Stahlplatten, die um die Baustelle herumführt und den losen Sand jenseits des Deichs grob befestigt. Ab jetzt achte ich auf Baustellenschilder und versuche auch tatsächlich, sie zu verstehen.
Aus Zwolle heraus gibt es eine Verbindung, die mich über 10km weit komplett separiert von der größeren Straße führt und ideal zum Kilometermachen ist. Es gibt hier fast nichts: Zwischen Zwolle und Kampen liegen kaum Siedlungen, wer hier fährt, fährt also weit; mindestens 10, eher 15km am Stück. Und trotzdem bin ich nicht allein, sondern begegne immer wieder eilig fahrenden Niederländern. Natürlich auf Hollandrädern!
Ich bin beeindruckt ob der Langstreckenfähigkeit der Hollandräder. Ich hatte sie als reine Stadtfahrräder für Wegstrecken im Bereich weniger Kilometer abgetan, aber die Möglichkeiten damit zu Unrecht völlig unterschätzt.
Hinter Kampen schaue ich flüchtig auf eine Karte der Gegend und erkenne, dass mein Track über eine Brücke führt, die hier nicht eingezeichnet ist. Dennoch wage ich es, denn ab hier wäre der Umweg über eine eingezeichnete Brücke gut 7km, eher mehr. Und siehe da: Die Brücke ist ein Steg über das Tor einer Schleuse. Man darf hier zwar nicht fahren, aber das Velo lässt sich gut schieben und der Weg ist dafür auch offiziell freigegeben. Die open street maps überzeugen mich einmal mehr.
Danach fahre ich entlang der Bahnstrecke, genieße den gelegentlichen Ausblick auf niederländische Züge und begegne dem einzigen Paalkamperen-Platz auf meiner Route. Daneben habe ich bereits einige "Micro-Camping"-Plätze gesehen und komme ins Grübeln, ob die Niederlände nicht vielleicht ein lohnendes Reiseziel für ein paar Tage wären. Zuhause googlele ich nach dem Platz und finde keine offiziellen Informationen, widersprüchliche Angaben und die Aussage, dass alle Paalkamperen-Plätze dauerhaft geschlossen seien. Nun gut, die Träumerei während der Fahrt war schön, aber die Reise wird dann wohl doch nichts. Während der Fahrt merke ich, dass langsam meine Energie schwindet und der Hunger zurückkommt. Ich brauche dringend etwas zu essen und finde in Dronten eine Bäckerei für das allernötigste. Bei der Ortsausfahrt liegt auf dem perfekt glatten Asphalt ein einzelner größerer Stein, den ich natürlich prompt mitnehme und der mir den
Schlauch durchschlägt. Eigentlich wäre es an der Zeit, auf tubeless umzurüsten, aber ich mag die Flexibilität unterschiedlicher
Reifen... Vielleicht brauche ich doch einen zweiten Laufradsatz. Ich werde kurz darauf auf andere Gedanken gebracht, als ich durch die Wind Test Site der Universität Wageningen fahre und all die Prototypen, Messmasten und Baustellen anschaue.
Ich erreiche
Oostvaardersplassen. Für mich das Highlight der Fahrt, denn ich habe schon vor einigen Jahren davon gelesen und entschlossen, dass ich das unbedingt sehen muss. Heute habe ich aber nicht die Muße für eine ausgedehnte Erkundung mit Fernglas und per Wanderung, die eigentlich nötig wäre, um dem Ort zu genügen. Ich habe aber Glück und treffe eine Herde Wildpferde direkt an einem der Zugänge zum Oostvardersveld. Um mich an die erwünschen 25m Abstand zu halten, muss ich sogar das Gelände wieder verlassen. Es nieselt, es dämmert und es wird kalt, aber ich habe wieder richtig gute Laune. Selig setze ich die Fahrt fort, das Wetter wird wieder besser und so gönne ich mir eine Abendessenpause in Almere. Ich bin jetzt bei Kilometer 304. Almere liegt spürbar im Einzugsbereich von Amsterdam. Als ich auf einer erhöhten Brücke stehe und darauf blicke, wie von hier aus der Verkehr und die Energie in die Stadt fließt, komme ich nicht umhin zu überlegen, was eigentlich falsch gelaufen ist, dass wir auf die Idee kamen, unsere Kraft und die Ressourcen der Erde zu nutzen, um etwas derart absurdes zu bauen.
Ich komme bald darauf durch Vinkeveen und bin beeindruckt, wie viele Gräben es zwischen den Häusern gibt und wie nah die Häuser an das Wasser heran gebaut sind. Das Gras des Gartens mündet fast auf gleichem Niveau in das Wasser; statt einer Rosenhecke zur Grundstücksabgrenzung gibt es hier Seerosen. Erst der Blick auf
Google Maps satellite view offenbart den vollen Umfang des ins-Wasser-bauens. Langsam setzt die Dämmerung ein, das GPS braucht mehr Aufmerksamkeit als mir lieb ist, ich werde müde und will ankommen. Ein letztes unterwegs-Foto mache ich kurz vor Delft, als ich mich wie auf einer Landebahn fühle.
Nach etwa 22 Stunden und 403km erreiche ich Delft.
Die Rückfahrt war auf ganz andere Art und Weise spannend: Ich fahre einige Tage drauf per Bahn. In Deutschland bin ich, was das Planen einer Bahnreise angeht, recht routiniert. Hier verpasse ich aber einige Aspekte, zum Beispiel, dass man zwischen 16:00 und 18:30 keine Fahrräder mit in den Zug nehmen darf (die DB-App hat für alle meine Züge die nicht reservierungspflichtige Möglichkeit der Fahrradmitnahme angezeigt!). Der erste Zugbegleiter schreit mich dann auch gleich an und droht mit einem Strafgeld, falls ich mich erdreisten sollte, in seinen Zug zu steigen (was ich aber ohnehin nicht vorhatte). Da mir die Sperrstunde nicht bewusst ist, fahre ich mit einem anderen Zug, lande in Zugausfällen und Verspätungen und zerlege in Den Haag schließlich das Velo auf Koffermaß, um Diskussionen zu vermeiden und es später in Deutschland in den ICE zu bringen. Ich bin froh, dass ich dieses meiner Velos ausgewählt habe, denn das Reiserad hätte ich auf keinen Fall so einfach zerlegen können. Nach 7 Umstiegen und etwa 9h Fahrt bin ich zuhause.
Was bleibt?
Der Eindruck, dass die Niederländer mit ihrem Fahrradwegenetz etwas großartiges aufgebaut haben. Isoliert in den Städten erhält man den Eindruck, dass das nur bessere Radwege seien. Auf dem Land und auf langer Strecke realisiert man aber, dass dies ein durchgängiges zweites Wegenetz ist, das nur in Ausnahmefällen mit dem PKW-Straßennetz zusammengelegt wurde, aber eigentlich viel umfangreicher ist. Die Niederländer schrecken auch nicht davor zurück, abgelegene Wege über lange Strecken zu bauen oder sogar teure Brücken zwischen den Dörfern zu errichten, wenn dies dem Fahrrad-Verkehrsnetz gut tut und wertvolle Verbindungen schafft.
Und für mich bleibt die Erkenntnis, dass ich eine derart lange Strecke tatsächlich fahren kann. Und das, obwohl ich damit meine "richtige" Fahrtstrecke jenseits der üblichen Alltagswege für dieses Jahr etwa verdoppelt habe.