Aus dem Nähkästchen geplaudert #4: Schweißnähte
Einige haben wohl schon darauf gewartet: hier das Nähkästchen zum Thema Schweißnähte.
Wenn der Alu-Rahmen irgendwann das Zeitliche segnet, passiert das meist in oder neben einer Schweißnaht. Die Schweißnaht stellt eine Schwachstelle dar: einerseits wird durch den Wärmeeinfluss die Festigkeit gemindert, andererseits stellt die Schweißnaht nur durch ihre Geometrie eine Kerbe dar mit entsprechender Spannungsüberhöhung.
Statische Lasten
Für statische Lasten ist das relativ einfach. Über einen Schweißnahtfaktor αw wird die zulässige Spannung herabgesetzt. Für die typischerweise im Fahrradbau eingesetzten Legierungen bewegt sich α
w im Bereich von 0,5 … 1,0 – abhängig von Legierung, Schweißnaht und Spannungsrichtung. Ein paar Beispiele:
Ein wichtiger Punkt ist noch die Wärmeeinflusszone, also der Bereich direkt neben der Schweißnaht. Auch hier wird die zulässige Spannung herabgesetzt, der „Entfestigungsfaktor“ nennt sich ρ
WEZ und hängt von Legierung und Zustand ab.
Idealerweise kann durch eine Wärmebehandlung die ursprüngliche Festigkeit wiederhergestellt werden und man muss die Wärmeeinflusszone nicht gesondert betrachten.
Statische Lasten sind in der Regel nicht so problematisch, weil das Material notfalls mit lokalen Plastifizierungen recht gutmütig reagiert. Die Bruchdehnung liegt je nach Legierung bei ca. 10% - davon können Carbon-Rahmen nur träumen …
Dynamische Lasten
Aber jetzt kommt der Hammer: für dynamische Lasten wird die Festigkeit in der Schweißnaht in sogenannte FAT-Klassen (Fatigue = Ermüdung) eingeteilt – und zwar unabhängig von der Legierung! Entscheidend für die Ermüdungsfestigkeit ist hier nur Geometrie der Schweißnaht.
Sehen wir uns erst einmal ein Beispiel an – das könnte eine Schweißnaht oben zwischen Oberrohr und Steuerrohr sein:
- Eine Schweißnaht (grün): schön ausgerundet (A),eckige Fase (B), konvex (C)
- Die Geometrie inkl. Schweißnaht wird sehr fein vernetzt. Die scharfen Ecken werden mit einem fiktiven Radius von 1mm verrundet.
- Die Belastung ist so getrimmt, dass die Spannung vor der Schweißnaht einen Wert von 100 MPa erreicht. Ergebnis: A=107 MPa, B=130 MPa, C=123 MPa
- Detailansicht Variante B
Erinnern wir uns an Nähkästchen #2. Aus dem Verhältnis der Spannungen von Variante A und B lässt sich der Effekt für die Lebensdauer berechnen:
Eckige Schweißnaht, nicht einmal halbe Lebensdauer …
Das ist natürlich alles sehr theoretisch und der fiktive Kerbradius von 1mm beeinflusst maßgeblich die Ergebnisse. Als Fazit kann man aber sagen: je runder, desto länger hält es. Steifigkeitssprünge (nicht nur bei Schweißnähten!) sollte man unbedingt vermeiden.
Kerbspannungskonzept vs. Nennspannungskonzept
Die Vorgehensweise oben nennt man Kerbspannungskonzept – die Kerbe (Schweißnaht) wird genau nachgebildet, so dass man direkt die überhöhte Spannung in der Kerbe erhält.
Das erforderliche Netz ist sehr fein und das ist natürlich nur für (vereinfachte) Detailmodelle möglich. Das oben gezeigte Netz auf einen kompletten Fahrradrahmen anzuwenden ist nicht praktikabel.
Für reale Bauteile benötigt man eine einfachere Vorgehensweise – das Nennspannungskonzept. Die Schweißnaht wird nicht mehr modelliert, sondern man verwendet die Spannungen direkt vor der Schweißnaht.
Und hier kommen die FAT-Klassen zum Einsatz: ein Katalog von „konstruktiven Details“ beschreibt verschiedene Schweißnähte inkl. Kraftrichtung und anderer Kriterien wie z.B. zerstörungsfreie Prüfungen. Die FAT-Klasse ist ein Maß für die Schwingfestigkeit.
Hier ein paar Beispiele:
Aus der FAT-Klasse wird über verschiedene Faktoren die Bauteilbetriebsfestigkeit berechnet. Da spielt die Mittelspannungsempfindlichkeit eine Rolle (wechselnde / schwellende Belastung) und insbesondere auch die Lastspielzahl. Außerdem wird unterschieden zwischen Normal- und Schubspannung. Jede Spannungskomponente hat ihre eigene Wöhlerkurve und wird im Nachweis separat behandelt.
Das Prozedere für den Nachweis ist recht komplex und in der Berechnungspraxis ist es wichtig, dass das automatisch abläuft. Ich habe mir für verschiedene Materialien Makros geschrieben, damit geht die Auswertung sehr schnell.
Anwendung auf Mountainbike-Rahmen
Die meisten oben genannten Informationen stammen aus der aktuellen FKM-Richtlinie – wobei da fleißig aus anderen Quellen abgeschrieben wurde (div. DIN-Normen, DVS, Eurocode, Hobbacher). Die Richtlinie ist sicher eine große Hilfe bei der Dimensionierung – aber wie genau lässt sich ein Mountainbike-Rahmen damit berechnen?
Dazu ein paar Anmerkungen:
- Solche Richtlinien sind grundsätzlich sehr konservativ angelegt (siehe Nähkästchen #1).
- Bei vielen Faktoren muss man abwägen: Sicherheit gegen Leichtbau. Die letzte Instanz ist hier der Test bei EFBE und wenn man den mit 10% Reserve besteht, ist man schon zu schwer (zumindest für den Testsieg bei der Bike).
- Die konstruktiven Details passen selten genau zu der tatsächlich vorhandenen Konstruktion.
- Die konstruktiven Details werden mit 5*10e6 … 1*10e8 Lastspielen geprüft. Man ist damit sehr weit weg von den typischen Lastspielzahlen beim EFBE-Test. Die Umrechnung anhand der Wöhlerkurve ist daher recht ungenau (und auf der sicheren Seite).
- Eine weitere Ungenauigkeit ist der Dickenfaktor. Die FAT-Klassen beziehen sich auf Blechdicken von 25mm. Immerhin darf für t<=10mm pauschal eine 10% höhere Festigkeit angenommen werden, aber für die beim Mountainbike typischen Wandstärken gibt es keine genaueren Angaben.
Fazit, meine persönliche Einschätzung
Es gibt viele Einflussfaktoren, die die Bauteilbetriebsfestigkeit positiv oder negativ beeinflussen. Und die sollte man als Konstrukteur (und natürlich als Berechner) kennen. Ein Mountainbike-Rahmen ist extremer Leichtbau und da muss man viele konservative Annahmen aus so einer Berechnungsvorschrift kritisch hinterfragen (und einige Dinge über Bord werfen).
Eine buchstabengetreue Dimensionierung, inkl. aller Sicherheitsfaktoren und bei jedem Detail auf der sicheren Seite – ich schätze, dass man damit bei einem Rahmengewicht von fast 10 kg landen würde.
Macht dann eine FEM-Berechnung überhaupt Sinn? Ich denke schon. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, was man erwarten kann:
Viele Grüße
Onkel_Bob