Inzwischen bin ich wohlbehalten wieder zuhause, aber bevor ich das Buch zumachen fehlt ja noch...
Tag 5 - über beide Scheideggen
Mein Nachtlager war dieses Mal deutlich niedriger als in den vorangegangenen Nächten (nur etwa 800m hoch). Ob es mit der dadurch höheren Temperatur, oder dem etwas höheren Sauerstoffgehalt der Tal-Luft zu tun hatte weiß ich nicht. Auf jeden Fall wachte ich um zehn nach sechs auf und fühlte mich besser ausgeruht als bisher.
Die erste Amtshandlung des Tages war der Abbau meines Lagers, dass nicht doch noch jemand Anstoß an mir nähme.
Danach hatte ich Zeit mir ganz unbefangen mein Frühstück zuzubereiten.
Der frühe Start war gut, der heutige Tag wartete nämlich mit einer festen Deadline auf: um 18 Uhr musste ich in Interlaken meinen Zug erwischen! Ich verlor also keine Zeit, packte zusammen und für nach Innertkirchen hinab.
Dort begann direkt der Anstieg zum nächsten Etappenziel - der "Großen Scheidegg" zwischen Innertkirchen und Grindelwald. Dieser Pass ist mit 1962m nicht extrem hoch, da ich aber weit unten startete lagen trotzdem 1340hm vor mir. Auch hier war der für Start vorteilhaft, die Sonne hatte noch nicht ihre ganze brutale Härte entfaltet.
Die (mal wieder) durchgehend asphaltierte Kletterpartie teilte ich mir mit etlichen Rennradfahrern. Gut nachvollziehbar, da es eine der schönsten Rennrad-tauglichen Bergstrecken ist die ich bisher gesehen habe.
Ab halber Strecke ist die Straße Mautpflichtig, was den Verkehr auf ein sehr geringes Maß reduzierte.
Die meisten der verbleibenden Fahrzeuge beendeten ihren Weg in Rosenlaui. Einem sehr attraktiven Bergdorf mit eindeutig touristischer Ausrichtung, in traumhafter Kulisse:
Unmittelbar hinter dem Ortseingangschild, nach der ersten Kurve, musste ich laut auflachen: inmitten dieser bäuerlichen Alpenszenerie steht plötzlich ein komplett unpassendes fünf-Etagiges Gebäude im kolonialen Grand-Hotel Stil.
Siehe z.B. hier. Da hatte irgendwann offenbar jemand eine Vision, aber wenig Fingerspitzengefühl.
Je höher man klettert, desto epischer weitet sich die rückwärtige Aussicht:
Gegen zwölf Uhr mittags erreichte ich endlich die Passhöhe der großen Scheidegg, neben der imposant das fast 3700m hohe Wetterhorn trohnt.
Der Blick über den Pass, in Richtung Grindelwald offenbart ein noch bekannteres Gesicht der Alpen - die Eiger-Nordwand (wenn auch teils von Wolken verhüllt):
Rechts unterhalb dieses berühmten Berges liegt die "Kleine Scheidegg", mit 2061m ironischerweise der höhere der beiden Pässe.
Ich war mir zeitlich sehr unsicher wie lange die zusätzliche Pass-Überquerung dauern würde, und ob ich es dennoch rechtzeitig zum Zug schaffen könnte. Sicher war aber dass ich davor noch Mittagessen essen musste um irgendeine Chance zu haben. Also kehrte ich direkt hier im Restaurant ein.
Nach dem Essen, und der anschließenden Abfahrt auf dem Wanderweg nach Grindelwald war es 13:20 Uhr. Oh je ... immer weniger Zeit
.
Um nichts zu überstürzen wälzte ich noch eine Weile Bahn-Verbindungen und Streckenzeiten im Handy.
Egal wie ich die Strecke über die Berge oder außen herum legte - es stand immer auf der einen Seite eine viel zu frühe Ankunft in Interlaken, und auf der anderen ein sehr kleines Zeitfenster ohne Budget für mögliche Pannen, oder Verzögerungen.
Irgendwie konnte ich mich nicht zur "vernünftigeren" Option durchringen. Das potentielle Bedauern es gar nicht versucht zu haben erschien mir schwerwiegender als eine verpasste Bahn. Kurz vor 14 Uhr machte ich mich Also an den Aufstieg - mit gut 4 Stunden bis zum Zug.
Eine brauchbare Indikation über meinen Fortschritt am Berg musste her - um bei Schwäche noch rechtzeitig umkehren und den Weg durchs Tal fahren zu können.
Ich rechnete damit die 11km mit 1100hm bis zum Pass in ca. 2h schaffen zu können. Damit blieben mir dann noch weitere 2h für die insgesamt 26km von dort nach Interlaken hinab. Rechnerisch wären das 550hm pro Stunde für den Aufstieg, was ich mit etwas Luft für Pausen in Blöcke zu 100hm je 10-Minuten abmessen wollte.
Der Blick zurück über Grindelwald aufs Wetterhorn und die Große Scheidegg.
Ich fuhr also eine Geschwindigkeit von der ich glaubte dass ich sie gut 2 Stunden durchhalten könnte. Nach 10 Minuten war ich bereits 120hm höher. So ging es auch die folgenden Zeitabschnitte weiter, und ich beruhigte mich langsam. Toll - viel besser als geplant, also blieb ein noch größerer Puffer für mögliche Pannen. Die guten Höhengewinne waren eine sehr motivierendes Maßeinheit und beflügelten mich.
Laut Aufzeichnung war ich so nach nur 93 Minuten die 1100hm bis zum Pass hinauf gekommen, und freute mich riesig! Nach den großen Anstrengungen der letzten Tage war ich endlich wieder im Bereich meiner früheren Leistungen angekommen, und es ging mir prima
.
Die kleine Scheidegg ist ein sonderbarer Pass. Auf halber Höhe an der Nordflanke des Eiger gelegen, wird sie nicht nur von diversen Liften umgeben, sie beheimatet auch den umsteige-Bahnhof der Zahnradbahn-Strecken von Wenger-Bergbahn und Jungfrau-Bahn. Letztere fährt den mit unglaublichen 3454m höchsten Bahnhof Europas am Jungfrau-Joch an.
Durch diese ungewöhnlich gute Verkehrs-Anbindung wimmelt es auf dem Pass nur so von Sandalen, Rollkoffern und Sonnenhüten. Inklusive der dazugehörigen Hotels und Gastronomie.
Nach dem stolzen Foto-Beweis für die geschaffte Etappe orientierte ich mich nach Nord-Westen, um den Wanderweg über die Wenger Alp nach Wengen abfahren zu können. Diesen Trail muss man sich mit ca. 100 zusätzlichen Höhenmeternam Anfang des Wanderweges erarbeiten. Kein Problem - hatte jetzt ja die nötigen zeitlichen Reserven
.
Sobald man die Flanke des Lauberhornes nach Nord-Westen hin umrundet hat, eröffnet sich einem der Ausblick ins Wenger Tals an dessen Ende Interlaken wartet.
Die Abfahrt nach Wengen war unkompliziert und kurzweilig. Kurz nach 16 Uhr kam ich in Zentrum dieses wuseligen Tourismus-Dorfes an, und nutzte die gesparte Zeit um im örtlichen Coop noch ein paar Essbare Souvenirs für meine Kinder einzukaufen.
Von Wengen nach Lauterbrunnen, an der Sohle des Tales, führt eine unerwartet lange, und verblüffend steile Fußgänger-Serpentine durch den Wald. Nicht unbedingt schwierig, aber trotzdem sehr lustig und fahrenswert. Und eine echte Belastungsprobe für die
Bremsen .
Meine Shigura 2-Kolben
Bremsen haben es klaglos überstanden, eine Speiche im Vorderrad verabschiedete sich aber bei einem besonders beherzten Bremsmanöver mit einem satten "PLOINKK".
Von Lauterbrunnen aus führt ein durchgehender Radweg am rechten Ufer der "Weißen Lütschine" fast bis nach Interlaken.
Um 17 Uhr war ich am Ziel. Damit hatte ich vor dem Zug genug Zeit bei einem Essen die Erlebnisse noch etwas sacken zu lassen.
Schön wars!
Die letzte Etappe bei Strava ansehen.