Wir notieren den 4. September 2016 – ein Stück Mountainbike-Geschichte wird geschrieben. Nein, wir meinen nicht den siebten Gesamtweltcupsieg von Julien Absalon, der an jenem Tag in der Höhe von Vallnord (Andorra) ebenfalls in die Geschichtsbücher einging. Es war das letzte XC-Rennen eines Großen, ja vielleicht sogar einer MTB-Legende. José Antonio Hermida stand eben an diesem 4. September, in der Nähe seiner Heimat, zum letzten Mal an der Startlinie eines Weltcuprennens und fuhr unter frenetischem Jubel, direkt vor Nino Schurter, auf Rang zwölf in Ziel.
Der spanische Spaßvogel sagt ‚adiós‘ – Grund genug für uns einen Blick auf die bemerkenswerte Karriere von José Antonio Hermida zuwerfen.
Die Salatschüssel ist bis oben hin gefüllt
Die vorletzte Runde des letzten Weltcups 2016 in Andorra, nur wenige Kilometer von der Heimatstadt Hermidas, Puigcerdà, ist eingeläutet. Eine 5 Mann starke Gruppe, in der um den zehnten Platz gekämpft wird, kommt auf der ersten Hälfte der Runde in die Feedzone. Soweit so gut, eigentlich eine alltägliche Szene im Profizirkus der XC-Piloten. Doch dieses Mal war alles anders. Wer von den Fünfen auf eine neue Trinkflasche hoffte, griff ins Leere, da die Betreuer der Teamfahrer anderweitig beschäftigt waren. Sie bildeten ein Spalier für einen Großen der MTB-Szene: Jeder einzelne Betreuer streckte ein Laufrad in die Höhe, sodass die Gruppe unter großem Jubel durch ein Tor aus Rädern hindurchfahren durfte. Schlussendlich kamen, wie erwähnt, fünf Biker in diesen Genuss dieses Spalier zu durchfahren, doch gedacht war diese Aktion nur für einen – José Antonio Hermida.
Allein dieses Bild zeigt, wie beliebt der Spanier in der Szene war und in Zukunft auch noch sein wird, denn – so viel vorweg – ganz hängt Hermida sein Bike nicht an den Nagel. Bei Marathon- und Etappenrennen dürfen wir auch in Zukunft den Spanier noch anfeuern.
Zurück nach Vallnord: Ob es am Ende Zufall war, dass Hermida im Ziel Rang zwölf belegte und insgesamt zwölf Jahre für das Multivan Merida Biking Team unterwegs war? Wir wagen es zu bezweifeln, doch eine nette Anekdote am Rande ist es allemal. Für den 38-Jährigen war dieser zwölfte Platz ein gutes letztes Weltcup-Resultat, auch wenn man den Spanier in den Jahren zuvor meist weiter vorne in den Ergebnislisten finden konnte.
Fünfmal war Hermida am Start bei Olympischen Spielen und fünfmal landete er in den Top 15. Gekrönt wurde das Kapitel Olympia mit dem Silbermedaillengewinn 2004 in Athen. In Sydney im Jahr 2000 und in London 2012 verfehlte der sympathische Fahrer jeweils mit Platz vier die Medaillenränge nur um Haaresbreite. Außerdem wurde er 2010 Weltmeister in der Eliteklasse und brachte somit das Kunststück fertig bei den Junioren, in der U23 und bei den Herren einen WM-Titel zu gewinnen – bis heute gelang das nur Julien Absalon und Nino Schurter. Weitere Medaillen von Weltmeisterschaften reihen sich in das Palmarès des Spaniers unter anderem drei goldene mit dem Team in den Jahren 2002, 2004 und 2007 ein. In denselben Jahren, in denen Hermida mit der Mannschaft bei der WM erfolgreich war, sicherte er sich jeweils auch den Einzel-Titel des Europameisters.
Auch im Weltcup war der Katalane äußerst erfolgreich. Insgesamt sechs Weltcupsiege verbuchte Hermida, den ersten feierte er 2001. Viermal war er Zweiter in der Gesamtwertung der höchsten Rennserie im XC-Zirkus, dreimal belegte er Platz drei in der Endabrechnung. Ganz oben auf dem Treppchen stand der Spanier am Ende des Jahres nie, doch sein Bekanntheitsgrad sank deshalb keinesfalls. Hermida hat in seiner Karriere also etliche Medaillen und Trophäen gesammelt – die Salatschüssel ist also voll.
Die Salatschüssel? Ja, ihr habt schon richtig gelesen, die Salatschüssel! Nachdem die lange Saison zu Ende war, unterhielten wir uns mit Fabian Aust, dem langjährigen Teamchef von Hermida, und durften so die eine oder andere Geschichte über den Menschen José erfahren, die uns des Öfteren ein dickes Grinsen ins Gesicht trieb. So auch die Story mit der Salatschüssel.
„José ist ein großer Familienmensch. In Puigcerdà in seinem Haus erinnert nichts an Radfahren. Er hat keine Bilder von seinen Siegen an der Wand hängen und keine Pokale in der Vitrine aufgestellt. Wenn er von den Rennen heim kommt, dann ist er Papa. Nur in seiner Garage lagern seine Bikes und sein komplettes Material. Deshalb hat er auch alle seine Medaillen, unter anderem die silberne aus Athen, in einer großen Salatschüssel gesammelt.“ – Fabian Aust
Mit der Klingel am Lenker zum Sieg
Nicht nur sportlich war Hermida ein Großer der Szene, auch menschlich war bzw. ist der Spanier ein echtes Vorbild. Die Frohnatur war der Clown auf den Rennen. „Du hast diesen Typen am Tisch und brauchst keinen Fernseher oder kein Radio. Sein Humor ist einzigartig. Bemerkenswert ist aber, dass José alles und jeden unterhalten kann, er aber nie Witze auf Kosten anderer macht, sondern nur über sich selbst. Seine Späße sind auch nicht dumm und öde, das wäre auf Dauer nämlich langweilig, sondern stets originell und cool“, erzählt uns Fabian Aust im Gespräch.
In Erinnerung bleiben wird auch seine Freundschaft zu seinem langjährigen Teamkollegen Ralph Näf, mit dem er sich auf den Rennen stets ein Zimmer teilte und ein kongeniales Duo bildete. Ähnlich war die Situation mit Rudi van Houts, mit dem sich der Katalane ebenfalls bestens verstand. „Am lustigsten war es wenn Ralph, Rudi und José auf einem Haufen waren. Rudi konnte den Beiden mit seinem trockenen Humor jedes Mal so genial die Stirn bieten, dass immer eine klasse Stimmung aufkam, wenn wir gemeinsam unterwegs waren. Rudi war auch der einzige der es schaffte, Josés Sprüche so gut zu kontern, dass der erstmal keine Antwort mehr parat hatte“, berichtet Hermidas ehemaliger Teammanager.
Auf der einen Seite gibt es diesen lustigen, lässigen José, auf der anderen aber auch den hochprofessionellen Sportler, der zu jeder Zeit einen klaren Plan vor Augen hat.
„José ist zu jeder Zeit perfekt organisiert. Ich kann mich in der ganzen Zeit bei Multivan Merida nicht daran erinnern, dass er jemals irgendetwas vergessen hat. Wenn seine Teamkameraden beim Fotoshooting mal die Handschuhe nicht dabei hatten, dann sprang José kurzer Hand ein und sagte ‚kein Problem, ich habe ein zweites Paar‘. Zusätzlich hat er immer alles perfekt unter einen Hut bekommen, das war bewundernswert.“ – Fabian Aust
Und so war es fast selbstverständlich, dass der Spanier eine spezielle Rolle im Team einnahm. Er selbst hat sich allerdings nie als Teamleader präsentiert und drängte sich mannschaftsintern zu keiner Zeit in den Mittelpunkt. Die jungen Fahrer schauten allerdings logischerweise zu ihm auf und orientierten sich an dem Ausnahmesportler. „Er hat immer alle im Team unterstützt und die jungen Fahrer nie alleine dastehen lassen. Mit seiner Erfahrung war er natürlich auch ein gefragter Mann – bei der Reifenwahl war er immer Ansprechpartner Nummer eins“, so Aust über die Rolle des Altmeisters.
José Antonio Hermida war und ist ein großes Vorbild – und das nicht nur innerhalb des Multivan Meridas Biking Teams. In seiner Heimat in den Pyrenäen schauen die Kids auf ihn auf. Er ist eben ein Großer. Regelmäßig hält der 38-Jährige Vorträge in der Schule seiner Kinder unter anderem zu den Themen Sport und Ernährung. Dazu bringt er stets seine Medaillen aus der Salatschüssel mit, damit die Schüler daraus eine Motivation für ihre sportlichen und alltäglichen Ziele ziehen können. Die Medaillen sind dadurch inzwischen stark abgegriffen und die Bänder angerissen. „Die Leute sagen immer, dass kannst du doch nicht mit deinen Medaillen machen. Doch José sieht das komplett anders. Er meint dann nur: „Ich erinnere mich gut an die Quälerei in Mont-Sainte-Anne oder in Athen, dazu brauche ich keine Medaille in der Vitrine. Es ist doch viel besser, wenn die Kids so etwas in den Händen halten können und es ihnen eine Freude bereitet.‘“
Nun ist die Weltcupkarriere des Spaniers also vorbei. Mehr als 100 Weltcuprennen hat er bestritten, sechs davon konnte er gewinnen. José war definitiv eine große Bereicherung für den Sport und er hat ihn in den letzten Jahren auch mit vorangetrieben. Der disziplinierte und fokussierte Sportler auf der einen Seite und der coole, sympathische und lustige Typ auf der anderen. Und was wohl die wenigsten über den Ausnahmesportler wissen: Lange Zeit fuhr Hermida jedes Rennen mit einer Gummiente hinten in der Trikottasche – ein Glücksbringer, den er von seinem Sohn geschenkt bekommen hat.
Zu guter Letzt noch eine Anekdote die Hermida, den „Clown“ und den großen XC-Piloten, sehr gut beschreibt:
„José ist bei einem Rennen mit einer Klingel am Lenker gefahren. Jeder hat sich gefragt, warum macht er das? Als ich ihn gefragt habe, weshalb er diese Klingel am Lenker montiert hatte, meinte er nur: ‚Ich bin ein höflicher Mensch, ich klingle, wenn ich überhole.‘ Nur hat er das komplette Rennen geführt, also konnte er nie klingeln. Deshalb klingelte er jede Runde, wenn er durch die Feedzone fuhr. Am Ende hat er gewonnen.“ – Fabian Aust
Adiós José! – Danke für etliche spannende Rennen in den vergangenen 20 Jahren. Es war eine geile Zeit und wir freuen uns, dich an der Startlinie von einigen Langstreckenrennen 2017 zu sehen!
…weitere Bilder aus der Karriere von José Antonio Hermida:
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