Mountainbiken als Sport verändert sich im Laufe der Zeit: Die Bikes, die Fahrer, die Fahrgewohnheiten. Damit ändern sich auch die Anforderungen an unser Material – doch die Normen, nach denen es getestet wird, wandeln sich nur recht langsam.
Zu langsam? Fahrrad-Hersteller und Prüfinstitute versuchen deshalb zusätzlich zu den Normen durch eigene Prüfverfahren die Realität abzubilden und so genauere Vorhersagen treffen zu können, ob das Produkt im Alltag besteht und die Sicherheit der Kunden gewährleistet ist. Doch welche Lasten genau auftreten lässt sich nur schwer ermitteln und noch schwerer nachbilden – zu unterschiedlich sind die Anforderungen und Auswirkungen verschiedener Fahrer. Recht deutlich wird diese Unschärfe bei einem Blick auf die Hinweise, die Hersteller zu Bikes geben (müssen), beispielsweise bei Canyon:
“Bikes dieser Kategorie [„3“] beinhalten die Räder aus den Kategorien 1 und 2 und sind darüber hinaus für rauhere und unbefestigte Terrains geeignet. Auch sporadische Sprünge mit einer max. Höhe von ca. 60 cm sind im Nutzungsbereich dieser Fahrräder. Aber auch Sprünge dieser Höhe können bei ungeübten Fahrern unsaubere Landungen mit sich bringen, wodurch sich die einwirkenden Kräfte signifikant erhöhen und zu Beschädigungen und Verletzungen führen können.” (Canyon Homepage, Beschreibung Spectral AL)
Diese Beschreibung macht klar: Die Trails entscheiden genauso über die auftretenden Belastungen wie der Fahrer. Da braucht es Prüfverfahren und Annahmen, die die realen Belastungen zuverlässig repräsentieren. Deshalb beschäftigt sich EFBE unter dem Arbeitstitel nine-point-eight-one mit Fragen wie diesen:
- Ist beispielsweise eine DIN EN 14766 aus dem Jahr 2005, die weitgehend unveränderte neue ISO 4210 oder sonst irgendeine bestehende Norm, geeignet, modernes DH, Enduro, AM etc. wiederzugeben?
- Sind ältere Messungen noch relevant?
- Kann man mit einigen Abfahrten ein valides Lastkollektiv ermitteln, oder muss man nicht vielmehr mit unterschiedlichen Fahrern, unterschiedlichen Bikes, auf verschiedenen Strecken und über lange Zeit messen, um abgesicherte Daten und schließlich realistische Prüflasten und -verfahren zu erhalten?
Video-Teaser
Das folgende Video gibt einen kleinen Einblick in die Arbeit an Lenkern und Vorbauten:
Analyse
Das Equipment für die Lenker-/Vorbaumessung im Video erfasst die Kräfte mit sogenannten DMS-Halbbrücken am Lenker, das sind Dehnungsmessstreifen, die genau das machen: Die minimalen Dehnungen des Lenkers, wenn dieser belastet wird, erfassen. Diese Bauteile ändern schon bei geringen Verformungen ihren elektrischen Widerstand und werden als Dehnungssensoren eingesetzt. Man klebt sie mit Spezialkleber auf den Lenker, der sich unter Belastung minimal verformt. Diese Verformung (Dehnung) führt dann zur Veränderung des Widerstands des DMS. Diese Widerstandsänderung wird von speziellen Brücken-Messverstärkern gemessen, gefiltert, digitalisiert und dann aufgezeichnet.
Die Messwerte lassen sich hinterher visualisieren und – wie im Video – mit Helmkamera-Aufnahmen koppeln. Die Anzeigen sind jeweils für links und rechts die horizontalen und vertikalen Kräfte 50 mm vom freien Lenkerende (unten) sowie die Resultierende parallel zur Rahmenhauptebene (oben im Fadenkreuz). Der Fahrer in dem kleinen Clip ist Martin Koschak (Amateur Deutscher DH-Cup), die Strecke ist, kaum zu verkennen, der iXS-Downhill in Bad Wildbad.
EFBE misst seit einem halben Jahr auf verschiedenen Strecken, mit unterschiedlichen Fahrern und mit diversen Bikes. Hunderte von Gigabyte an Daten sind bislang zusammen gekommen. Schon jetzt glaubt EFBE, die größte und umfassendste Sammlung von Gravity-Betriebslasten aller Zeiten zusammengetragen zu haben, aber man hat noch viel vor – vor dem zweiten Quartal 2015 ist laut EFBE nicht mit einer Veröffentlichung der Ergebnisse zu rechnen.
Was man aber jetzt schon zum Beispiel mit einem Blick dem Video entnehmen kann: Die Richtung der Krafteinleitung findet am Lenker in der Realität in einer Richtung ca. 45° zum Boden statt (die Achsen sind in den Messungen horizontal bzw. vertikal bei Bike im Sag). Die Norm prüft dagegen parallel zum Gabelschaft. Das mag bei einem Alulenker nicht so dramatisch scheinen, führt aber zumindest immer wieder zu Prüfstandsartefakten bei höheren Kräften (z.B. Verdrehen). Beunruhigend wird’s bei Carbon – einen Lenker, bei dem die Orientierung der Fasers auf das Bestehen der Normprüfung ausgelegt ist, kann die Realität sehr schnell einholen, wenn die Lasten in Nutzung ca. 20° flacher angreifen. Grund dafür sind die hochgradig richtungsabhängigen Eigenschaften von Kohlefasern.
EFBE verspricht weitere Updates im Laufe des Projekts.
34 Kommentare