Bei einem Bike wird häufig sehr viel Geometrie-Wert auf die Kettenstrebenlänge gelegt. Bike-Entwickler holen weit aus und gehen viele Kompromisse in der Konstruktion ein, um die Hinterradachse näher ans Tretlager zu rücken. Alles für eine möglichst kleine Zahl, welche leicht vergleichbar ist mit Geometrietabellen anderer Hersteller. Besser um die Kurven soll man kommen. Das Fahrverhalten soll agiler sein. Bei den meisten Herstellern bleibt die Länge der Kettenstrebe durch alle Rahmengrößen hindurch gleich. Es wird allerhöchste Zeit, hier etwas genauer hinzuschauen und die Aussagen der Hersteller nicht nur zu hinterfragen, sondern selbst zu experimentieren.

Kettenstrebenlänge und Agilität

Im ersten und im zweiten Artikel dieser Serie haben wir ja schon eingehend behandelt, dass Fahrradgeometrie sehr komplex ist und von vielen Parametern abhängt. Es gibt keine grundsätzliche Aussage über auch nur einen Wert, der ideal wäre, wenn er größer oder kleiner wäre. Für den potenziellen Kunden, der im Fahrradladen steht, ist dies aber schwer verständlich: Bei einem Auto ist mehr PS ja auch besser – oder?

Überträgt man dies in die Bikeindustrie, hört man leider immer wieder neben „leichter ist besser“, „mehr Federweg ist besser“ und „steifer ist besser“ immer noch eine zentrale Aussage:

„Bikes müssen kurze Kettenstreben haben!“ Bikeindustrie

Bei niedrigen Geschwindigkeiten verhält sich eine kurze Kettenstrebe definitiv wendiger als eine längere. Zusätzlich kann es leichter sein, die Front anzuheben und/oder Wheelie zu fahren. Zu spitz angefahrene Kurven lassen sich damit oftmals auch noch ganz gut retten. Vor knapp 25 Jahren, als ich nach meinen einzigen Erfahrungen auf dem Starrbike meine ersten vollgefederten Bikes auf dem Parkplatz vor dem Fahrradladen zur Probe fuhr, war ich genau hiervon beeindruckt. Aber im Gelände bewegt man die Bikes in der Regel sehr viel schneller. Dass sich dort eine längere Kettenstrebe besser anfühlen kann, erfuhr ich (vor allem aus Mangel an Angebot am Markt) wortwörtlich erst einige Jahre später.

Höhere Front bei gleichem Radstand = Bike geht leichter aufs Hinterrad
# Höhere Front bei gleichem Radstand = Bike geht leichter aufs Hinterrad - Ein Grund, warum Bikes, die am Berg schnell sein sollen gerne tiefere Fronten haben. Das Vorderrad steigt später.
Höhere Front mit mehr Reach geht immer noch leicht aufs Hinterrad
# Höhere Front mit mehr Reach geht immer noch leicht aufs Hinterrad - Insbesondere, wenn sich die Angriffswinkel zwischen Lenker, Tretlager und Hinterradachse durch einen größeren Fahrer ändern.

Das Gerücht, dass ein langes Bike oder ein Bike mit längeren Kettenstreben zu schwer aufs Hinterrad zu holen ist, hält sich hartnäckig. Anhand der beiden obigen Darstellungen möchte ich dies relativieren:

Ein langes Rad mit langen Kettenstreben kann agiler werden und leichter aufs Heck gezogen werden, wenn man den Abstand zwischen Tretlager und Lenkerhöhe (vertikal im Lot gemessen) erhöht. Mit dieser Maßnahme ändert sich der Angriffswinkel im Bezug zum Drehpunkt (Hinterradachse). In der Illustration ist ebenfalls aufgezeigt, wie sich der effektive Reach verkürzt (hellorangener Angriffspunkt gegenüber dem hellblauen) wenn man nur einen höheren Lenker oder einen Spacerturm verwendet. Verlängert man den Reach und erhöht man den Stack (dunkelorangener Punkt), kann man immer noch einen Vorteil des größeren Angriffswinkels für Manual-Aktionen mitnehmen. Dieser Vorteil besteht aber nur, wenn der Fahrer groß genug ist und seinen Angriffspunkt auf den Lenker und die Länge seiner Beine seinen Schwerpunkt weit genug nach hinten bringen kann. Hier ist sehr wichtig zu verstehen, dass ein kleinerer Fahrer auf dem gleichen Setup nicht den gleichen fahrerischen Einfluss nehmen kann, wohl aber auf einem kleineren Rad, welches andere Verhältnisse zwischen Reach/Stack, Lenkerhöhe und Kettenstrebenlänge hat.

Vergrößert man Front/Center, sollte man meiner Meinung nach gleichzeitig das Heck verlängern, um die Gesamtbalance zu erhalten. Einige Hersteller machen dies (Norco, Liteville …), aber nicht alle. Im Zeitalter von Carbon-Rahmen ist dies natürlich auch immer ein Kostenfaktor. Bleibt man bei einer Länge der Kettenstrebe durch die Größen hindurch, resultiert aus den unterschiedlichen Verhältnissen und der veränderten Position der Angriffspunkte des Fahrers ein unterschiedliches Fahrverhalten zwischen den Rahmengrößen.

Ein Rahmen wächst nur im vorderen Bereich
# Ein Rahmen wächst nur im vorderen Bereich - Zwangsläufig entsteht zwischen den Rahmengrößen ein anderes Fahrverhalten aufgrund geänderter Achslasten.
Ein Rahmen wächst komplett
# Ein Rahmen wächst komplett - Da die Verhältnisse ähnlicher bleiben – nicht gleich – verhält sich ein größerer Rahmen ähnlicher wie ein kleinerer.

Das bedeutet nicht, dass kurze Kettenstreben an großen Rahmengrößen generell falsch sind! Es erfordert einen anderen Fahrstil und kann manchen Fahrern mehr entgegenkommen als anderen. Im späteren Verlauf und bei der Planung meines Prototyps war eine Verstellung dieses Parameters besonders wichtig, um diesen Punkt im Fahrbetrieb praktisch zu untersuchen und zu belegen.

Kann ein Hinterbau beliebig lang sein?

Viele werden sich fragen, wie sich ein Rad mit der im letzten Artikel errechneten Kettenstrebenlänge fährt und warum es sowas am Markt nicht gibt. Die Antwort liegt nicht am Rad, sondern an einer anderen Stelle. Grundsätzlich würden sich für zwei Fahrer der Größe 160 cm und 190 cm, deren Bikes proportional in allen Werten bis hin zur Laufradgröße angepasst wurden, in der Handhabung erstmal gleich anfühlen.

Begeben sie sich aber ins Gelände, steht man vor einer unlösbaren Problematik. Denn die Kurven, Absprünge, sprich alle Parameter, mit denen man beim Mountainbiken konfrontiert wird, werden nicht skaliert, und da stößt man sprichwörtlich an Grenzen bei der Länge – und sei es nur der Baum beim Fichtenslalom, der Kurven- oder Absprungradius.

Weiterhin verkleinert sich der Kurvenradius des Hinterrades mit steigendem Radstand immer weiter gegenüber dem Kurvenradius des Vorderrades. Hier spielen dann stärker abnehmende Seitenführungskräfte und eine Position des Rades innerhalb der Kurve oder einem Anlieger eine zunehmend größere Rolle.

Kreisbahnen der Laufräder bei kurzem Radstand
# Kreisbahnen der Laufräder bei kurzem Radstand
Kreisbahnen der Laufräder bei längerem Radstand
# Kreisbahnen der Laufräder bei längerem Radstand
Gripverteilung zwischen Vorder- und Hinterreifen in Rillen und Anliegern
# Gripverteilung zwischen Vorder- und Hinterreifen in Rillen und Anliegern - Während das Vorderrad lotrecht auf dem Boden aufsteht und somit den größtmöglichen Grip bietet durch den Ausgleich von G- und Zentripetalkraft, wird der Hinterreifen stärker beansprucht. Der seitliche Aufstand des Reifens zieht an den Seitenstollen und verformt die Karkasse. Im schlechtesten Fall kommt es zum sogenannten Burping, wo der Reifen von der Felgenflanke weggezogen wird und Luft entweicht.

Besonders im Schnee lassen sich die unterschiedlichen Kurvenradien von Vorder- und Hinterrad deutlich aufzeigen. Das Hinterrad folgt dem Vorderrad und legt aufgrund des kleineren Kurvenradius weniger Strecke zurück. Der engere Kurvenradius bedeutet allerdings auch, dass bei gleicher Geschwindigkeit der Räder die Seitenführungskräfte stärker abnehmen als an der Front. Schlussendlich bedeutet dies bei identischer Radlast zwischen beiden Rädern einen früheren Grip-Verlust. In engen Anliegern und kleinen Rillen zeigt sich dieses Phänomen stärker an einem Rad mit mehr Radstand.

Letztendlich sollte man auch die Bremstraktion am Heck nicht vernachlässigen, denn die nimmt mit einer aufs Vorderrad verlagerten Gewichtsverteilung ebenfalls ab einem gewissen Punkt ab. In steilem Gelände kann man ein solches Bike dann nur noch auf den Geraden mit der Vorderradbremse verlangsamen. Das sorgt für Bestzeiten oder eben eine Bodenprobe abseits der Linie. Sinnvoll ist es also, zwischen den Rahmengrößen als Hersteller und Fahrer einen Unterschied im Fahrverhalten hinzunehmen und nur in gewissem Maße eine Anpassung dieser Verhältnisse vorzunehmen.

Sinnvolle Gründe für kurze Kettenstreben

Warum gibt es überhaupt Hersteller, die keine mitwachsenden Kettenstreben nutzen? Wer sich etwas tiefer mit der Fahrdynamik an Fahrrädern beschäftigt und möglicherweise auch mal den einen oder anderen Fahrtechnikkurs absolviert hat, weiß, dass man nicht an eine bestimmte Fahrposition gebunden ist. Man kann ein Bike über die Front, zentral oder übers Heck fahren. Kurze Kettenstreben erfordern zumeist eher Letzteres.

Kurz, kürzer, Enduro
# Kurz, kürzer, Enduro - Specialized war lange Zeit eine der lautesten Firmen im Rennen um die kürzesten Kettenstreben. Mit 419 mm wartete das Enduro Evo aus 2013 auf. Bei allen Rahmengrößen. Sieben Jahre später hat das weiterentwickelte Bike neben größeren Laufrädern auch 442 mm Kettenstreben an allen Rahmengrößen.

Meine Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass insbesondere Mountainbike-Neulinge sich oft auf Rädern mit kurzen Kettenstreben wohler fühlen. Das hängt mit dem Umstand zusammen, dass der notwendige Input, um die Front zu heben oder um passiv um Kurven herumzufahren, sehr viel niedriger ausfällt und weniger Linienplanung voraussetzt als mit längeren Kettenstreben. In unserem Pool an Testern verschiedenster Könnerstufen zeigte sich so oft auf Bikes mit kurzen Kettenstreben eine stark verkürzte Eingewöhnungsphase, insbesondere bei Leuten mit weniger bewusst eingesetzter Fahrtechnik und bei weniger an hohen Geschwindigkeiten orientierten Fahrern.

Fahrposition locker und über der Front
# Fahrposition locker und über der Front - In den meisten Fahrtechnikschulen würde diese Haltung in einem Kurs nach hinten korrigiert werden. Aber gestreckte Arme und eine Position hinter dem Sattel können bei einem schnellen Übergang ins Flache für ungünstige Kraftwirkung auf den Fahrer führen. Wer so weit über der Front fährt, sollte im steilen Gelände wissen, was er tut.

Allerdings bedeutet das nicht, dass man diese Bikes nicht auch sehr schnell durch heftiges Gelände bewegen kann. Es gibt hier – und das möchte ich ausdrücklich betonen – kein Schwarz oder Weiß beziehungsweise richtig oder falsch. Dies macht diese Thematik nicht nur delikat in der Diskussion, sondern auch sehr schwierig in der Erklärung, weil wir Menschen gerne dazu neigen, das Optimum von etwas zu suchen. Sprich: Das Beste ist gerade gut genug und dafür kann es nur eine Lösung geben! Oder?

Was die beste Länge einer Kettenstrebe ist, kann nicht mit einem Prüfstand oder einem Messverfahren festgelegt werden. Zu komplex ist der Faktor Mensch in seiner Individualität und unterschiedlichem Fahrstil oder notwendigen Anpassungen aufgrund der Größe und Anatomie. Einige Hersteller bieten mitwachsende Kettenstreben an. Um verschiedene Vorlieben abzudecken, wäre dennoch eine Verstelloption die bestmögliche Lösung.

Was sind eure Erfahrungen mit Kettenstrebenlängen?

Disclaimer: Das Forschungsprojekt Geometrie ist komplett privat finanziert worden und steht in keinerlei finanzieller Verbindung zu MTB-News oder externen Herstellern.

  1. benutzerbild

    HarzEnduro

    dabei seit 08/2008

    Bei niedrigen Geschwindigkeiten verhält sich eine kurze Kettenstrebe definitiv wendiger als eine längere. Zusätzlich kann es leichter sein, die Front anzuheben und/oder Wheelie zu fahren.
    Ist nicht auch die Raderhebungskurve ausschlaggebend? Also im Prinzip auch die Kettenstrebenlänge, die sich damit ändert. Bei einem HPP Rad wie dem Deviate Highlander z.B. wird die Kettenstrebe im Federweg bis zu 25mm länger.

    Versucht man nun hier einen Manual, wirkt auf das HR ja auch mehr Gewicht (federt weiter ein) und die Kettenstrebe wird länger. Ich empfand es auf diesem Rad ungleich schwerer es auf das HR zu ziehen im Vergleich zum normalen Rad davor.
  2. benutzerbild

    danimaniac

    dabei seit 08/2018

    Ja klar. Am Ende muss dein Gewicht ja über die Hinterachse, also musst du weiter nach hinten um den Manual stabil zu ziehen.

  3. benutzerbild

    Grinsekater

    dabei seit 08/2002

    Ist nicht auch die Raderhebungskurve ausschlaggebend? Also im Prinzip auch die Kettenstrebenlänge, die sich damit ändert. Bei einem HPP Rad wie dem Deviate Highlander z.B. wird die Kettenstrebe im Federweg bis zu 25mm länger.

    Versucht man nun hier einen Manual, wirkt auf das HR ja auch mehr Gewicht (federt weiter ein) und die Kettenstrebe wird länger. Ich empfand es auf diesem Rad ungleich schwerer es auf das HR zu ziehen im Vergleich zum normalen Rad davor.

    Das spielt auch mit hinein. Wichtig ist, sich immer bewusst zu machen, dass alle Parameter zusammenspielen. Ein Fahrrad ist eine Erweiterung unseres Körpers (Werkzeug), mit dem wir interagieren. Unser Körper ist ebenso gewissen Eigenheiten unterworfen (Kräfte, Hebel, Schwerpunkte und Angriffswinkel), die zusammen mit dem Fahrrad "funktionieren" bzw. "abgestimmt" werden müssen.

    Jedes Fahrmanöver bedeutet eine Interaktion zwischen uns und dem Fahrrad. Wir als Menschen sind in der Lage, komplexe Bewegungsabläufe zu erlernen. Es gibt Bikes, auf denen fällt einem manches leichter als auf anderen. Das hat mit deiner Erfahrung mit vielleicht ähnlichen Systemen zu tun oder der Berechenbarkeit des Fahrrads.

    Um dein Beispiel mit dem Manual aufzugreifen: Was passiert mit deinem Schwerpunkt und was mit dem des Rades, wenn du am Lenker ziehst? Deine Muskeln müssen den richtigen Impuls geben, um die Balance zu erhalten. Verschiebt sich der Punkt, an dem du die Balance hast dadurch, dass das Bike einfedert und/oder die Kettenstrebenlänge sich ändert, so musst du/dein Körper das "erwarten" und entsprechend neue Impulse setzen.

    Spoiler: In den vergangenen Jahren war ich nicht untätig, was die Weiterentwicklung von Bikes, der Geometrie und das Vermitteln von Wissen darüber angeht. Wenn alles nach Plan läuft, wird 2023 ein Projekt gestartet, an dem auch mehr Leute teilhaben können. Ich werde das dann über meinen Instagram-Account anzukündigen.

    smilie
  4. benutzerbild

    HarzEnduro

    dabei seit 08/2008

    Das spielt auch mit hinein. Wichtig ist, sich immer bewusst zu machen, dass alle Parameter zusammenspielen. Ein Fahrrad ist eine Erweiterung unseres Körpers (Werkzeug), mit dem wir interagieren. Unser Körper ist ebenso gewissen Eigenheiten unterworfen (Kräfte, Hebel, Schwerpunkte und Angriffswinkel), die zusammen mit dem Fahrrad "funktionieren" bzw. "abgestimmt" werden müssen.

    Jedes Fahrmanöver bedeutet eine Interaktion zwischen uns und dem Fahrrad. Wir als Menschen sind in der Lage, komplexe Bewegungsabläufe zu erlernen. Es gibt Bikes, auf denen fällt einem manches leichter als auf anderen. Das hat mit deiner Erfahrung mit vielleicht ähnlichen Systemen zu tun oder der Berechenbarkeit des Fahrrads.

    Um dein Beispiel mit dem Manual aufzugreifen: Was passiert mit deinem Schwerpunkt und was mit dem des Rades, wenn du am Lenker ziehst? Deine Muskeln müssen den richtigen Impuls geben, um die Balance zu erhalten. Verschiebt sich der Punkt, an dem du die Balance hast dadurch, dass das Bike einfedert und/oder die Kettenstrebenlänge sich ändert, so musst du/dein Körper das "erwarten" und entsprechend neue Impulse setzen.

    Spoiler: In den vergangenen Jahren war ich nicht untätig, was die Weiterentwicklung von Bikes, der Geometrie und das Vermitteln von Wissen darüber angeht. Wenn alles nach Plan läuft, wird 2023 ein Projekt gestartet, an dem auch mehr Leute teilhaben können. Ich werde das dann über meinen Instagram-Account anzukündigen.

    smilie
    Der da wäre?
  5. benutzerbild

    Grinsekater

    dabei seit 08/2002

    Der da wäre?
    Siehe Signatur. smilie

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