Spätestens mit dem Boom schwererer, weil elektrisch unterstützter Fahrräder, die auch zum Teil schwereren Fahrerinnen und Fahrern den Weg auf die Trails ebnen, ist das maximale Systemgewicht als Kenngröße zunehmend interessant. Wir erklären euch, was es mit dem maximalen Systemgewicht beim Mountainbike auf sich hat.
Inhalt
Maximales Systemgewicht – will die Industrie mich ärgern?
Das maximale Systemgewicht, auch „zulässiges Gesamtgewicht“ genannt, was ist das eigentlich? Was bedeutet es für Kauf und Nutzung eines Fahrrads und wovon leitet es sich ab? Welche Bedeutung hat diese Zahl und welche Risiken birgt diese Thematik für Bikerinnen und Biker?
Manche aktuelle E-MTBs wiegen allein schon 28 kg und dürfen laut Spezifikation im Einsatz nur insgesamt bis zu 120 kg* schwer sein. Das beinhaltet neben natürlich dem Bike und dessen Fahrer oder der Fahrerin auch sämtliche Ausrüstung: Trikots, Hosen, Schuhe, Protektoren, Rucksäcke, Ersatzteile, Tools, Wasser, Proviant und sogar das gesamte Gewicht eines eventuell gezogenen, ungebremsten Anhängers. Diese Angabe limitiert also die Menge an Ausrüstung, die jemand mit auf den Trail nehmen kann; sie begrenzt aber mit ehrlichem Blick auf die heimische Waage vielen Menschen auch die zur Auswahl stehenden Bikes bei einer Neuanschaffung. Verkürzt gesagt, schränkt das maximal zulässige Systemgewicht von Fahrrädern schweren Fahrerinnen und Fahrern den Zugang zu Sportgeräten und Fahrzeugen merklich ein und sorgt daher verständlicherweise bei manchem für Unmut. Warum ist das so? Was steckt dahinter?
Die Industrie sucht Lösungen – und belastbare Komponenten
Ingo Beutner, Head of Engineering der Accell-Gruppe (siehe auch: Haibike Flyon: Vom Prototyp zum Serienmodell), erläutert uns einige Details und technische Hintergründe dieser Kennzahl. Ingo verantwortet die technischen Entwicklungen der Bikes von Marken wie Haibike oder auch Ghost und Lapierre.
Was bedeutet maximales Systemgewicht?
Besonders bei sportlichen Rädern ist Leichtbau natürlich ein enorm prominentes Thema, auch im Fokus der Kundschaft*. Aber stabilere Komponenten sind immer auch schwerere Komponenten – ein Dilemma, so alt wie der Radsport. Neben den vom Hersteller selbst oder in Lizenz hergestellten Bauteilen – mindestens dem Rahmen – besteht ein modernes Fahrrad aus strukturell relevanten, fertig zugekauften Komponenten verschiedenster Herkunft.
Für die Frage, wie hoch der Fahrer oder die Fahrerin das ganze System belasten darf, ist die Belastbarkeit des schwächsten verbauten Teils maßgeblich. Es hilft also nichts, einen unglaublich stabilen Rahmen zu konstruieren: Gabeln, Laufräder, Lenker, Sattelstützen und vieles mehr müssen ebenfalls sämtlich für entsprechend hohe Lasten ausgelegt sein. Klar! Allein hier spitzt sich die Geschichte für alle E-MTB-Fans bereits systemseitig um ca. 10 kg zu, stammen doch naturgemäß die meisten ihrer Komponenten aus dem MTB-Bereich, sind also für den Einsatz an per se leichteren, nicht motorisierten Bikes vorgesehen.
Am entgegengesetzten Ende der Skala gilt es nicht zu vergessen, dass auch leichte Menschen Fahrräder optimal nutzen wollen. Je mehr ein Bike konstruktionsseitig auf ein hohes Gesamtgewicht ausgelegt wird, desto weniger sinnvoll wird es bei einem geringen Gesamtgewicht funktionieren. Schon heute müssen auch leichte und kleine Menschen Abstriche bei der Auswahl passender E-Bikes hinnehmen und damit leben, dass z. B. Dämpfungskomponenten für sie nicht optimal funktionieren. In einer perfekten Welt gäbe es daher wohl am besten unterschiedlich konstruierte, spezielle Fahrräder je nach Fahrergewicht. Die Fahrradmarke und Giant-Tochter Liv etwa kümmert sich mit speziell auf die weibliche Physiognomie optimierten Rahmengeometrien und eigenen Dämpfertunings um diese Fragestellungen für die weibliche Zielgruppe.
Dinge, die im maximalen Systemgewicht mitzählen:
- Bike
- Fahrer*in
- Bekleidung
- Helm, Protektoren
- Gepäck: Rucksack, Tasche(n), Inhalt: Proviant, Wasser, Werkzeug, Ersatzteile
- Anhänger sowie deren Inhalt, falls vorhanden und ungebremst!
Manche Hersteller geben statt des gesamten zulässigen Systemgewichts die maximale Zuladung an, die ein Bike verträgt, zum Beispiel Orbea. Andere Hersteller beziehen bei der Angabe des max. zulässigen Systemgewichts das Fahrzeuggewicht mit ein.

Müssen für das maximale Systemgewicht freigegeben sein: alle strukturell relevanten Bauteile
- Laufräder
- Achsen
- Bremsen
- Reifen
- Rahmen
- Sattelstütze
- Lenker
- Vorbau
- Dämpfer
Gewicht + Beanspruchung = Belastung
Die Belastung von Fahrradkomponenten, erklärt uns Ingo Beutner, ist eine Folge aus dem oben genannten Gesamtgewicht einerseits – und der Action andererseits: Ein Bike, das auf einem beheizten niederländischen Luxusradweg tadellos funktioniert, kann irgendwo zwischen Wurzeltrail und Dirtpark natürlich seine Belastungsgrenzen überschreiten. Ein Downhill-Lenker wäre für ein Bike, das nur auf zahmeren Trails bewegt wird, entsprechend mit mehr Gewicht belastbar. Das vollständige Bild ist also eine Matrix aus der Kenngröße „Gewicht“ und der Kenngröße „Gebrauch“ – und während ersteres mit einer Waage und ein wenig Grundschulmathematik schnell zu ermitteln ist, wird es beim Gebrauch deutlich komplexer. Zum Glück haben kluge Menschen uns allen das Leben hier enorm vereinfacht:
ASTM-Kategorien: Komplexe Sachverhalte einfach durchnummeriert
Die ASTM wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet, um die Anforderungen an die Stahlqualität für Eisenbahnschienen zu regeln. Von ihr stammt eine Norm (ASTM F2043-13), um die zulässigen Belastungen für den bestimmungsgemäßen Gebrauch von Fahrrädern zu klassifizieren. Die nutzerfreundlich durchnummerierten ASTM-Klassen 1-5 benennen ganz einfach Dinge, die Nutzerinnen und Nutzer mit einem bestimmten Fahrrad tun dürfen, weil der Hersteller unter maximal diesen Rahmenbedingungen – und bei Einhaltung des zugelassenen Gesamtgewichts – eine Haltbarkeit des Systems gewährleistet. Diese Klassifizierung ist nicht nur präziser, sie ist auch besser verständlich als die ältere ISO-Norm ISO 4210 und die EN 15194, die in Europa klassischerweise als rechtlicher Mindeststandard die Belastbarkeit und Haltbarkeit von Bauteilen normieren.
Auch wissenswert: Bis heute gibt es keine speziell für E-MTBs zugeschnittene Norm und selbst für nicht motorisierte Mountainbikes wird es dünn mit verbindlichen Testverfahren und Vorschriften für die belastungsintensiven Einsatzbereiche Enduro und erst recht Downhill.
Immerhin: Die ASTM-Kategorien wurden in Form der Europäischen Norm EN 17406 im Jahr 2020 auch in Europa zum Maß der Dinge. Kenngröße sowohl der ASTM als auch der von ihr abgeleiteten EN-Norm sind eine maximal zugelassene Sprunghöhe. Marcus Schröder vom auf Fahrräder und Bike-Komponenten spezialisierten Testinstitut EfBe (Gefoltert: Das ICB in den Händen des Prüfinstituts EFBE) klärt uns auf, dass Sprünge und Drops ganz prägnant die für die Belastung entscheidenden Ereignisse im Leben eines Bikes sind, sich also als Indexgröße insofern anbieten. Die ASTM- oder auch die EN-Klassen bezeichnen deshalb ganz unkompliziert als Hauptkriterium die zulässigen Sprunghöhen (Landung in der Waagerechten!) von Fahrrädern und E-Bikes:
Übersicht der ASTM/EN-Kategorien
bezogen auf die zulässige Sprung- bzw. Drop-Höhe. Höhere Kategorien schließen natürlich die Nutzung in niedrigeren Kategorien mit ein.
- Kategorie 1 – Maximale Sprung/Drophöhe < 15 cm – „Rennrad, Triathlon, Zeitfahrrad“
- Kategorie 2 – Maximale Sprung/Drophöhe > 15 cm – „City, Cargo, Tour, Trekking, Gravel“
- Kategorie 3 – Maximale Sprung/Drophöhe > 60 cm – „XC-MTB“
- Kategorie 4 – Maximale Sprung/Drophöhe < 120 cm – „Trail/Allmountain-MTB“
- Kategorie 5 – Maximale Sprung/Drophöhe > 120 cm – „Downhill/Freeride-MTB“
Auch hier wäre es natürlich wünschenswert, Hersteller würden Nutzungsklassen als Matrix angeben: Also konkret Sprunghöhe (sprich: Belastung) in Abhängigkeit vom Maximalen Systemgewicht deklarieren – denn ein Fahrrad, mit dem ein vergleichsweise leichter Pilot Kategorie-5-Dinge tun darf, würde für einen schwereren Fahrer sicherlich noch in einer geringeren Nutzungsklasse zuverlässig funktionieren. Das Fahrergewicht allein ergibt, wie zuvor erwähnt, einfach kein vollständiges Bild.
Praktisch an diesen Einsatzklassen und ihren kennzeichnenden Symbolen ist, neben der radikalen Vereinfachung komplexer Nutzungsumgebungen, dass man die zugehörigen Symbole prima als kleine Aufkleber auf Fahrradrahmen* kleben kann. Doch ist Vorsicht geboten. Auch die ASTM-Klassen sind alles andere als eine perfekte Lösung, wie Michi Grätz vom Komponenten-Hersteller Newmen zu berichten weiß:
Neben einer möglichst realistischen Einstufung muss der Kunde auch ehrlich zu sich selbst sein. Wie die meisten wissen, gibt es Fahrer, die trotz hohem Körpergewicht kaum Material zerstören und Fahrer, die mit nur 70 kg Körpergewicht alles klein bekommen.
Michi Grätz, Newmen
Neue Bikes und Komponenten werden zunehmend schon während ihrer Entwicklung in Simulationen ersten Belastungstests unterzogen und in von Herstellern oder Testinstituten eigens entwickelten Prüfverfahren ganz real nach den rechtlich vorgegebenen und nach eigenen, höheren Kriterien getestet.

Die Krux mit dem *
Habt Ihr es bemerkt? Bis zu dieser Stelle im Artikel habt Ihr bereits an fünf Sternchen vorbeigelesen. Solche Sternchen können es in sich haben:
Prinzipiell begründet die Nutzung eines Angebotes immer ein Vertrauensverhältnis zwischen Nutzenden und Anbietenden. Egal, ob ihr jemanden bittet, euch eine Portion Pommes zu verkaufen oder ein Auto – ihr seid davon abhängig, dass man euch hinsichtlich der Qualität der Leistung reinen Wein einschenkt. Das wird bei Fahrrädern schon dadurch erschwert, dass Testverfahren in Laborumgebungen die Realität der tatsächlichen Nutzung zwar mehr oder weniger gut imitieren, ihr aber nie vollständig entsprechen können. Aber das ist nicht eure einzige potenzielle Sorge:
Hinter einem kleinen Sternchen verbirgt sich oft etwas ähnlich Kleingedrucktes. Klebt auf einem Fahrradrahmen eine ASTM- oder EN-Klassifizierung, ist damit nicht ausgeschlossen, dass lediglich der Rahmen die entsprechenden Spezifikationen erfüllt. Manche Hersteller verbauen dann trotzdem Komponenten, die schwächer belastbar sind.
Da wird dann, teilweise bewusst, auch aus Marketinggründen, mit dem Wohle und der Sicherheit des Kunden gespielt. In manchen Bedienungsanleitungen steht ganz klein irgendwo drin: „Teile des Fahrrads können das zulässige Gewicht nach unten beeinflussen!“ Da verbauen dann andere Hersteller auch mal Gabeln, von denen wir wissen, dass sie nur bis 120 kg zugelassen sind, an Trekkingräder mit einer Freigabe bis 156 kg.
Für uns als Accell Gruppe steht jedoch ganz klar die Sicherheit des Kunden an erster Stelle. Wir hätten in der Vergangenheit auch schon supergern Räder gehabt, wo wir drauf schreiben 150, 155, was auch immer, 186 kg (maximales Systemgewicht), haben uns aber bewusst dagegen entschieden, weil wir das nicht guten Gewissens hätten angeben können. Dabei haben wir schon in der Vergangenheit unsere Rahmen so konstruiert, dass sie deutlich mehr aushalten als sie aushalten müssten. Da bis heute fast jeder Fahrradrahmen, egal ob aus Carbon, Alu oder Stahl, in Handarbeit gefertigt wird, kommt es natürlich immer zu einer Streuung in der Fertigungsqualität. Wenn wir besser konstruieren und härter testen, verschaffen wir uns da eine Reserve.
Ingo Beutner, Haibike
Hersteller Cube macht es noch anders: Die hauseigene Klassifizierung sieht der EN/ASTM-Skala verblüffend ähnlich, entspricht ihr aber nicht annähernd: So ist ein Cube der Kategorie 4 nur für Sprünge und Drops bis zu 50 cm zugelassen, während es laut ASTM Cat. 4 120 cm sein dürften.
Was passiert, wenn man zu schwer für ein Bike ist?
Natürlich steht es jedem frei, ein MTB oder E-Bike einfach außerhalb der Freigabe zu verwenden: Austausch-Gabeln mit etwas zu viel Federweg, wilde Stunts mit Baumarkt-MTBs oder simple Überschreitungen des maximalen Systemgewichts sind ja irgendwie auch an der Tagesordnung. Aber wenn unter solchen Umständen mal etwas biegt oder bricht, liefert Ihr dem Hersteller gleich ein tolles Argument, sich von einer Verantwortung freizusprechen. Keine unbegrenzt zufriedenstellende Idee also.

Welch immenser Aufwand hinter der Entwicklung eines modernen Mountainbikes steht, hatten wir vor einigen Jahren mit dem „Internet-Community-Bike“, einem in Zusammenarbeit mit der Leserschaft und mithilfe von Carver entwickelten MTBs, sozusagen am eigenen Leib festgestellt.
Bikes für alle?
Kommen wir mal zu den nicht ganz so guten Nachrichten – und zur Auflösung des Sternchens aus dem Beginn dieses Artikels: So wie Menschen mit bestimmten Körpermaßen nicht überall passende Kleidung finden, so schließt auch die Industrie bestimmte potenzielle Kund*innen von der Nutzung ihrer Produkte ganz einfach dadurch aus, dass es eben ein zu groß, zu klein, zu leicht, oder ganz einfach zu schwer für diese Produkte gibt. Nett und integrativ ist das beileibe nicht – aber ein Stück weit plausibel. Denn im Zentrum des Interesses der Industrie steht natürlich Gewinnstreben. Übersteigt der Aufwand, etwas anzubieten, dessen Ertrag – wird es vermutlich nicht gebaut und angeboten.
Welches Fahrrad eignet sich für Übergewichtige?
So stehen nicht nur Mountainbiken, sondern das Fahrradfahren ganz allgemein sowie viele andere Dinge nicht jeder oder jedem so offen wie einem normal großen, 75 kg schweren, rechtshändigen Durchschnittseuropäer. Hier ist es sicher ein Stück weit auch die Aufgabe der Betroffenen, es der Industrie nicht so einfach zu machen und stillschweigend zu niedrige Systemgewichte einfach hinzunehmen: Marktmacht entscheidet und kann mittel- bis langfristig eine sinnvolle Entwicklung hin zu stabileren Bikes beflügeln.
Ist das maximale Systemgewicht für dich ein Thema? Wie gehst du damit um?
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