Wir haben lange überlegt,
Der deutsche Wald, dem Deutschen ein Mythos und seine Leidenschaft. Das Identifikationsobjekt einer ganzen Nation, Sinnbild des Deutschseins seit über 200 Jahren. Was ist nur passiert, dass der Wald im Bewusstsein der Deutschen diesen unumstößlich existenziellen Stellenwert hat? Wir als waldnutzende Aktivsportler kommen gar nicht drumherum, uns mit dem Thema Wald zu beschäftigen. Es soll ja Mountainbiker geben, die kennen sich im Wald besser aus als in ihrem Haus. Und sobald sie in einer urbanen Umgebung ausgesetzt werden, sind sie mit der Orientierung maßlos überfordert. Wo kommt sie her, diese verklärte Romantik und Sehnsucht nach dem deutschen Wald? Was treibt uns in die Wälder der Republik?
Der deutsche Wald tritt durch den römischen Chronisten Tacitus ins Bewusstsein der Weltgeschichte. Hermann dem Cherusker, die Nibelungensage und Götz von Berlichingen, alles Bestandteile deutscher Waldkultur. Nur unser Waldbewusstsein ist ja nicht genetisch verankert. Erst die Entwicklung des Nationalbewusstseins im frühen 19. Jahrhundert manifestierte die Liebesbeziehung des Deutschen zu seinem Wald. Der Wald ist der Ort, wo wir unsere Seele finden und baumeln lassen können, gelebte Sehnsucht seit Generationen.
„Auf die Berge will ich steigen,
Wo die dunkeln Tannen ragen,
Bäche rauschen, Vögel singen,
Und die stolzen Wolken jagen.“
(Heinrich Heine)
Vor der Generation Playstation waren Generationen von Teutonen schon an den Wald verloren, bevor sie Rad fahren konnten. Ich erinnere mich noch ganz genau an die Geschichten meiner Großeltern: Rübezahl, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen. Ich kenne auch die Gänsehaut, die mich überkam, bei Geschichten über Räuber und Wölfe, Drachen und Hexen. Die Menschen in meinem kindlichen Umfeld hatten ein riesiges Repertoire an Geschichten zum Thema Wald. Und dann gab es noch die ganzen Heimatfilme, die nach dem zweiten Weltkrieg die Sehnsucht nach heiler Welt befriedigt haben. Ob „Der Förster vom Silberwald“, „Die Försterchristel“ oder „Wo der Wildbach rauscht“, die Begeisterung für diese Filme war doch über fast drei Jahrzehnte der Inbegriff der deutschen Abendglückseligkeit.
Bevor ich in die Schule kam, war ich schon auf Wald geimpft. Nebenher war es ja auch unser Spielplatz. War das bei euch nicht auch so? Sogar Stadtpflänzchen konnten sich der gelebten Identifikation mit der deutschen Eiche in unserer Gesellschaft nicht entziehen. Eine perfekte heile Welt inmitten von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Flowerpower.
In den Achzigern traf uns Deutsche die Erkenntnis, dass der Wald stirbt bis ins Mark. Der Kampf dem sauren Regen war über Jahre hinweg das bestimmende Thema. Die letzte Bastion der Glückseligkeit war im Begriff zu fallen. Erst die Wiedervereinigung konnte vom Waldsterben ablenken.
Wir fahren Mountainbike. Wir könnten auch Rennrad fahren. Tun wir aber nicht. Weil es uns um mehr geht als das Rundtreten einer Kurbel. Wir sind unsere eigenen Therapeuten. Die Ruhe und Gelassenheit, die uns der Wald vermittelt, dient uns als Mittel zum Zweck, ist unsere Medizin gegen so manches Alltagsübel.
Aber wie geht es weiter? Unsere Kinder leben doch nicht mehr mit diesem Waldbewusstsein früherer Jahre. Wir haben sie doch häufig schon lange an das Internet und die Spielekonsolen verloren. Und wir leben es auch noch vor. Haben wir uns doch nicht schon selbst an die virtuelle Welt verloren? Heute steht der Wald nicht mehr im Fokus unseres kulturellen Lebens. Auch Märchen und Sagen haben nicht mehr den Stellenwert unserer Kindheit. Beispiel gefällig? Ich muss da immer an diese zwei Geschichten denken.
Grundschüler wurden aufgefordert Kühe zu malen – und viele dieser Kühe waren violett gefleckt. Oder die hier: Vor ein paar Jahren lief ein schon etwas älteres Kind schreiend am Waldrand an mir vorbei. Die Eltern erklärten mir, dass ihre Tochter noch nie zuvor eine Kuh gesehen hat. Das mögen drastische Beispiele sein. Aber so geschehen.
Die Welt ist im Wandel. Hat sie das deutsche Waldbewusstsein genauso überlebt wie unser Nationalstolz? Oder werden wir andere Wege finden, uns und unseren Nachkommen dieses positive Bewusstsein für unsere Natur zu erhalten? Es wäre schön, wenn wir alle das in einem Miteinander und nicht in einem Gegeneinander gestalten könnten. Denn wenn man mich fragt, was Deutschsein bedeutet, dann ist es meine Liebe zu Borke und Wurzel.
Die zwei Wurzeln
„Zwei Tannenwurzeln groß und alt
unterhalten sich im Wald.Was droben in den Wipfeln rauscht,
das wird hier unten ausgetauscht.Ein altes Eichhorn sitzt dabei
und strickt wohl Strümpfe für die zwei.Die eine sagt: knig. Die andre sagt: knag.
Das ist genug für einen Tag.“(Christian Morgenstern)
In diesem Sinne, Think Pink – Eure Muschi
Anmerkung: Unser Kolumnist Mario „Muschi“ Peters verstarb am 27. März 2018. Die noch unveröffentlichten Folgen seiner Kolumne „Muschi am Mittwoch“ werden regelmäßig posthum von der MTB-News.de-Redaktion veröffentlicht. Dies war sein persönlicher Wunsch. Die in den Artikeln vertretenen Ansichten und Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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