Schwalbe Procore im Test: Im Februar wurde das Schwalbe Doppelkammer-System „Procore“ zwar noch nicht offiziell vorgestellt, aber die Presse bereits zu einem Erstkontakt mit der Neuheit (Link zum Artikel) eingeladen. Details gab es dann Ende Juni, und seitdem steht fest: Schwalbe hat mit Procore eine echte Neuheit vorgestellt. Nach den bisherigen Erfahrungen damit steht für mich fest: Schwalbe Procore ist die Neuheit des Jahres 2014. Der Markterfolg scheint dennoch zweifelhaft.
Warum zwei Luftkammern?
Bei Schwalbe Procore handelt es sich um ein Doppelkammer-System: Im Inneren des Reifen sitzt eine zweite, kleinere Luftkammer. In den beiden Luftkammern können unterschiedliche Luftdrücke angelegt werden. Die innere Kammer wird sehr hart (ca. 6 Bar) aufgepumpt und übernimmt drei Aufgaben:
- Sie drückt den Reifen links und rechts gegen das Felgenhorn – dadurch kann der Reifen bei schneller Kurvenfahrt nicht mehr nach innen gedrückt werden, Luftverlust (bei Tubeless-Verwendung) ist ausgeschlossen.
- Sie schützt die Felge. Bei Durchschlägen fängt die Luftkammer den Schlag ab, Dellen im Felgenhorn werden vermieden.
- Sie bietet Notlaufeigenschaften. Sollte der äußere Reifen Luft verlieren, kann auf der inneren Kammer bedingt weiter gefahren werden.
Der größte Vorteil der inneren Kammer ist ihr Vorteil für die äußere Kammer: Die äußere Kammer kann in Folge dessen, dass Durchschläge und Luftverlust kein Thema mehr sind, mit einem wesentlich geringeren Luftdruck gefahren werden. So wenig Luftdruck, wie es sonst nur mit dicken Downhill-Reifen und Schläuchen gewesen ist. Oder sogar noch weniger. Weniger Luftdruck bedeutet, dass sich der Reifen besser an den Untergrund anpassen kann und leichter nachgibt: Mehr Komfort, mehr Traktion sind die Folgen. Tatsächlich kann der Reifen, der selbst eine Luftfeder darstellt, wesentlich besser auf kleine Hindernisse reagieren, als es eine Federgabel kann – schließlich hat ein Reifen anders als eine Federgabel kaum Massenträgheit, die in Bewegung gesetzt werden muss, um einem Hindernis auszuweichen.
Wie ist Procore umgesetzt?
Bereits vor Schwalbe Procore existierten und existieren diverse andere Doppelkammer-Luftsysteme. Im Motorrad-Bereich ist eine ähnliche Lösung schon einige Zeit bekannt, und das italienische System Dean Easy löst genau das selbe Problem. Auch eine Do-it-Yourself-Lösung aus dem Forum haben wir euch schon präsentiert. Dean Easy bietet die scheinbar nahe liegende Lösung an: Einen nicht dehnbaren Schlauch mit ca. 30 mm Durchmesser und einem Doppelventil. Schwalbe dagegen kombiniert quasi bestehende Produkte aus dem eigenen Sortiment: In den Reifen wird ein zweiter, kleinerer, profilloser Reifen gelegt, in diesen ein Schlauch. Die einzigen Neuheiten sind das Doppelventil des Schlauchs und ein Kunststoff-Adapter, der dafür sorgt, dass die Luft aus dem Ventil am inneren Schlauch vorbei in den äußeren Reifen fließen kann.
Tatsächlich könnte man sich statt des Procore-Sets auch zwei Schwalbe Insider Reifen (ab 210 g) und zwei passende Schläuche (ab 60 g) kaufen und das System aus Schwalbe Teilen selbst nachbauen. Einzige Nachteile: Man müsste sich weiterhin ein zweites Loch in die Felge bohren und unter Umständen den Kunststoff-Adapter nachbasteln, wie es User jatschek im Fotoalbum dokumentiert hat. Schwalbe hat, verglichen mit den genannten Komponenten, etwas Gewicht gespart: Procore wiegt pro Rad ca. 210 g. Dieser Gewichtsnachteil lässt sich kompensieren, indem ein leichterer Reifen gefahren wird (was durch den Durchschlagschutz möglich wird).
Wie fährt sich Procore?
Das Fahrverhalten ist der Grund, warum Procore für mich die Neuheit 2014 ist. Es bietet alle Vorteile eines extrem niedrigen Luftdrucks (Grip, Komfort) ohne die bekannten Nachteile (Luftverlust, Dellen, schwammiges Fahrverhalten). In Finale Ligure haben wir einen unserer User-Tester auf Procore gesetzt – ohne es ihm vorher zu sagen. Seine Eindrücke zu Alutechs ICB2.0 schildern ziemlich gut, wie sich Procore anfühlt:
„[…] Anschließend jedoch der Biketausch, ich durfte das Sram Bike mit Monarch und Pike fahren. Der Hinterbau vermittelte jetzt genau das gleiche satte Gefühl wie die Pike. Das Rad für sich sehr harmonisch, grobe sowie auch schnelle Schläge wurden vom Hinterbau schön verarbeitet, ich kann das Bike jetzt im ausgesetzten Gelände erstaunlicherweise gefühlt fast genauso schnell fahren, wie ein echtes 160er Enduro.
In Kurven hatte ich das Gefühl schneller zu sein, als mit meinem Enduro, es fühlte sich sogar fast wie beim Downhiller mit 1,3 kg 42a Maxxis Schlappen auf einer fetten Felge an. Wie auf Schienen eben. Dann fiel mir auf, dass ich mit dem Sram Bike jetzt auch Procore mit an Bord hatte und somit vorne einen Luftdruck von 1,2 und hinten 1,3 bar gefahren bin. Das ganze ohne Durchschläge oder sonstige komische Gefühle wie schwammiges Kurvenverhalten. Zwischenfazit: Procore gibts bei mir definitiv sobald verfügbar am eigenen Rad.“
Diese Eindrücke kann wohl jeder bestätigen, der Procore ausprobiert hat; man fühlt sich komfortabler und fährt dadurch selbstbewusster. Die Reifen schlucken deutlich mehr Unebenheiten, das Bike liegt satter, es kriegt gefühlt 2 cm mehr Federweg. Aufgrund der kleineren äußeren Luftkammer und der besseren Fixierung der Seitenwände fährt sich das Bike dennoch nicht schwammig.
Alles Procore, alles super?
Bisher habe ich genau vier Kritikpunkte an Procore gehört:
- „Zu schwer.“ – 210 g pro Rad sind nicht wenig. Die können jedoch wie erwähnt teilweise durch einen leichteren Reifen kompensiert werden, sind es andererseits aber absolut wert, in Kauf genommen zu werden. Der Effekt ist wie bei einer Teleskopstütze: Wiegt etwas mehr, bietet aber viele Vorteile.
- „Die häufigeren Durchschläge auf den harten Kern stören.“ – Mir kamen die Durchschläge nicht so häufig und nicht störend vor, scheint eine Frage des gewählten Luftdrucks, des Fahrstils und des Geländes zu sein.
- „Zerstört im Einzelfall Felgen.“ – Es ist unstrittig, dass durch den Kern andere Kräfte in der Felge auftreten – es ist abzuwarten, ob sich das negativ auf die Haltbarkeit der Felgen auswirken wird.
- „Zu teuer.“ – Das Gefühl ist nachvollziehbar, da sich die Preise der einzelnen Bestandteile (2 X Schlauch, 2 X innerer Mantel, 2 X Adapter, 2 X Dichtmilch, 2 X Montagehilfe) kaum zu 179 € aufaddieren. Zwei Punkte dazu: Erstens fallen die Preise für das Procore Set bereits jetzt, wo es noch nicht einmal lieferbar ist. Zweitens kenne ich keine andere Modifikation eines Fahrrades für 180 €, die einen so großen Vorteil mit sich bringt.
Procore – Der Standard der Zukunft?
Wenn Doppelkammer-Luftsysteme so genial sind, wie hier beschrieben – werden wir sie in Zukunft alle fahren? Genau da bleiben Zweifel, und zwar aus folgenden Gründen:
- Kein optischer Showstopper: Wer investiert 180 € in sein Fahrrad, nur damit es hinterher fast ein halbes Kilo schwerer ist – und optisch nicht aufgewertet wird? Sein wir ehrlich: Das klingt nicht verlockend. Jede andere Investition lässt sich herzeigen – und auch das ist vielen Bikern wichtig.
- Mehrgewicht: Es wird Mountainbiker geben, bei deren Einsatz ein niedriger Luftdruck und Pannensicherheit kaum Vorteile bringen, Mehrgewicht aber als Nachteil empfunden wird.
- Mehr Aufwand: Der Luftdruck des inneren Kerns sinkt schneller ab, als es Mountainbiker gewöhnt sind: Pro Woche verliert er ca. 0,4 Bar. Man sollte auch sonst regelmäßig nachpumpen und kontrollieren, ich kenne aber viele MountainbikerInnen, die ihren Reifendruck eher alle 2 Monate kontrollieren, als alle 2 Wochen – und das auch nicht ändern wollen.
- 26+ und 27+: Die halbfetten Lösungen bieten ähnliche Vorteile wie Procore – auch sie ermöglichen weniger Luftdruck und dadurch mehr Komfort und Grip. Auch sie bringen ein Mehrgewicht mit sich, weisen aber zusätzlich mehr Breite auf. Das hat in manchen Situationen Vorteile, in anderen Nachteile – vor allem aber ist es auf den ersten Blick sichtbar (siehe Punkt 1).
Wie ist deine Meinung dazu? Hast du Procore schon mal ausprobiert oder wirst du es testen? Kommt ein Kauf für dich in Frage?
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