Im Vorjahr brach sich Oskar auf dem Antonius-Trail im Bikepark Leogang das Kahnbein. Jetzt fährt er ihn erneut. Mission: Sturzfrei fahren und Sturzangst überwinden. Ein Gastbeitrag von Gunnar Fehlau.
Die Wolken hängen tief am großen Asitzkopf. Es ist kalt und nass. Mit Hochsommer hat das gar nichts zu tun. Es regnet. Der Bikepark Leogang liegt im Nebel. Wir können die Hände kaum vor Augen sehen. Vom Alpenpanorama keine Spur. Von ausgelassener Stimmung ist ebenso wenig. Wir, meine Söhne Moritz (17) und Oskar (19) und ich, stehen an der Einfahrt zum Antonius-Trail. Oskars Troy Lee-Shirt hebt sich unter schwerem Atem und schnellem Herzschlag. Er ist sichtlich nervös. Sein Gesichtsausdruck wechselt sekündlich zwischen Angst, aufgesetzter Coolness, Ratlosigkeit und Zuversicht. Uns allen dreien fehlt jede Unbekümmertheit, mit der wir sonst unseren jährlichen Gravitationsgeländerollsporttrip begehen.
Hacken statt Flow
Ein letzter aufmunternder Klopfer auf die Schulter. Wir rücken die Goggles zurecht. „Oskar, fahr du vor, in deinem Tempo!“, rät Moritz seinen älteren Bruder. Los geht’s! Als zweiter schwenkt Moritz sein Nicolai auf den Singletrack, dessen schmales und natürliches Geläuf vom ersten Meter an volle Konzentration fordert. Ich reihe mich als Letzter ein und schließe schnell zu Moritz und Oskar auf. Es sieht locker aus, wie er sein Bike über den naturbelassenen Trail mit Steinen und Wurzeln bewegt; auch die teils engen Passagen zwischen den Bäumen nimmt er locker. Dennoch wirkt sein Fahrstil hakelig, von Hindernis zu Hindernis hangelnd. Flow geht anders.
Vollbremsung fürs Vor-Abi
Flow bedeutet beim Mountainbiken die Balance von Dynamik, Traktion, Kontrolle und Mut. Es geht darum, die eigenen Grenzen zu überwinden, ohne die der Physik anzutasten. Dieses Gleichgewicht hatte Oskar letztes Jahr nicht halten können. Die Sause fand an einer Holzbrücke ihr jähes Ende. Oskar stürzte talwärts und brach sich beim unglücklichen Aufprall das Kahnbein. Unser Bikepark-Trip war zu Ende und mehr noch: Operation und Gips setzten Oskar auch schulisch außer Gefecht. Die praktischen Sportprüfungen im Vor-Abi rückten in weite Ferne, ein Fachwechsel war zu dem Zeitpunkt nicht mehr möglich.
So sah ich im Krankenhaus in Zell am See wieder in die Augen des kleinen vierjährigen Oskars, dem die Welt zu groß schien und der sich hinter dem Vater verstecken wollte. Dabei standen mir da 175 cm austrainierte Muskelmasse gegenüber, hinter deren Kreuz locker jedes Billy-Regal verschwindet. Und doch: Oskar bleibt ein Leben lang Sohn und ich der Vater. Ich war damals für ihn da, ich bin es jetzt.
Gib Gummi!
Das Wetter ist der Lage nicht eben zuträglich: In der Nacht hat es wie aus Eimern geschüttet und auch jetzt nieselt es noch. Die Wege sind mit kleinen Pfützen übersät und das Wurzelwerk, von dem es auf dem Antonius Trail reichlich gibt, ist somit extrem glitschig. Das könnte eine ordentliche Matschschlacht werden. Nichts für Schisser! Nichts für sensibles Schönwetter-Material. Und ich grinse in mich hinein. Noch auf der Hinfahrt haben die Jungs über mein „uncooles Bike“ gelacht. Jetzt spielt das Taniwha seine Trümpfe sowas von gnadenlos aus: Das geschlossene Pinion-Getriebe bekommt von dem miserablen Wetter nichts mit und auch der Gates Carbonriemen arbeitet ohne Murren trotz Schlamm und Dreck.
Das direkte Ansprechverhalten des spartanischen Hinterbaus und das leichte Carbon-Chassis verstärken dieses Gefühl von Leichtigkeit. Wir drücken auf die Tube und nehmen von mit dem Verlauf des Trails an Tempo auf. Es erweist sich als sehr nützlich, dass ich den Bikes vor der Abreise noch neue Big Betty Schwalbe-Schlappen gegönnt habe.
Was Titan nicht zusammenhält
Der Knochen wuchs, mit einer kleinen Titanschraube gestützt, wieder zusammen, die Schulprüfungen fügten sich dank corona-bedingter Verschiebungen. Was Risse behielt, war Oskars Trail-Selbstbewusstsein. Auch Monate nachdem das Kahnbein wieder voll belastet werden durfte, steht sein Jekyll-Carbon-Cannondale mit leckerer Eagle-Schaltung unbenutzt in der Ecke. Zu groß die Sorge vor erneuten Stürzen. An einem Samstagabend im Februar saßen wir zusammen und sinnierten über eine mögliche sommerliche Bikepark-Tour. Oskar, normalerweise vehementer Antreiber unserer Bike-Touren, blieb ungewohnt wortkarg. Da brachte es Moritz auf den Punkt: „Du musst den Antonius nochmal fahren, um deine Angst zu überwinden!“
Seine Angst ist mein Dilemma
Das war die Lösung. In mehrerlei Hinsicht: Wir hatten ein Ziel und Oskar so vielleicht einen Weg zurück zum Biken. Es sollte noch fast ein halbes Jahr vergehen, bis er sich in Leogang der Vergangenheit stellen konnte. Bis dahin mied er das Bike und mich zerriss es bald. Sollte ich dieser Haltung das Wort reden und den hyperängstlichen Helikopter-Papi mimen oder wäre es besser, sich dem Kampf doch zustellen und dazu, ganz im Stile der megamaskulinen Rambo-Väter, die ihrem Nachwuchs mit Machosprüchen und so manchem Fausthieb noch das letzte Körnchen Gefühl austreiben, testosterongeflutet anzustacheln? Oder kann mir da irgendwie ein verantwortungsvoller Kompromiss gelingen, der die Ängste und Gefühle respektiert und doch gleichzeitig eine Brücke aus der Komfortzone zurück zum Selbstvertrauen baut? Fragen über Fragen.
Zum Teufel mit den Fragen
Die sind jetzt vergessen, denn jetzt fahren wir durch die Devil’s Canyon Passage. Oskar wird mit jedem Meter lockerer. Er kommt wieder in seinem Element an und ich innerlich zur Ruhe. Fast katzengleich gleitet er mit seinem Cannondale durch diese schwierige Passage. Hier geht es auf einem schmalen Grat zwischen Fels und Waldabhang um eine Kurve und über ein Northshore-Element. Der Antonius-Trail ist ein echter Leckerbissen: Die Bäume stehen eng am Weg und kleine Stufen, Wurzeln, Steine und Holzelemente wechseln sich in wilder Reihenfolge ab.
Natürlich unperfekt
Der Regen hat nachgelassen, es klart ein wenig auf, fast so, als würde auch Petrus seinen Beitrag zur erfolgreichen Trail-Fahrt leisten wollen. Der Singletrack ist schmal und kurvig. Er schmiegt sich in einer langgezogen Windung nach links am Hang entlang. Im Zentrum der Talkerbe führt eine kleine Holzbrücke über ein Bergbächlein und knickt unmittelbar dahinter stark nach links ab. Die Kurve macht unerwartet schnell zu! Kein Mensch würde eine Brücke und Kurve so zeichnen. Die Natur schert sich freilich nicht um flowige Fahrbarkeit und die Trailbauer wollten den schroffen Charakter des Hangs und der Line erhalten und nicht bis auf eine Flowtrail-Murmelbahn abshapen.
Vor einem Jahr
Ich rolle hinter meinen Jungs her und erinnere mich an unsere Fahrt vor einem Jahr. Damals bin ich vornweg gefahren. Die Sekunden vor dem Sturz haben sich bei mir eingebrannt. Ich hatte die Brücke angefahren und das Rad unter Kontrolle, als ich vom starken Einknicken der Kurve überrascht wurde. Um nicht geradeaus in die Böschung zu ballern, bremste ich ab. Oskar fuhr ein wenig auf und musste dann umso heftiger bremsen. Er verlor die Balance und flog hangabwärts ins Bachbett. Das ist übersät mit groben Steinen. An einem solchen zerschmetterte sein linkes Kahnbein.
Reicht Fahrschulwissen?
In der Fahrschule heißt es: „Wer auffährt ist schuld“. Aber gilt das auch, wenn der Vater vorausballert und sein Sohnemann hinterher? Seit einem Jahr fühle ich mich irgendwie schuldig und doch bin ich es wohl nicht: Mountainbike ist keine Teamsportart, jeder fährt für sich und entscheidet selbst, mit welchem Tempo und Abstand er hinter etwaigen Vorausfahrenden unterwegs ist
Lange Angst, kurze Passage
Jetzt kommt die Unglückspassage. Oskar hat davor angehalten. Moritz fährt direkt über die Brücke und hält im Anschluss an. Ich hadere: Keinesfalls will ich seine Sorge nähren, ignorieren kann ich sie aber auch nicht. Letztlich rolle ich mit einem lockeren „Ich warte bei Moritz, dann hast du den Trail für dich!“ an ihm vorbei. Kaum stehe ich beim Jüngsten, setzt sich Oskar in Bewegung, fährt auf die Brücke und setzt zur Linkskurve an. Mir stockt der Atem. Moritz feuert seinen großen Bruder laut an! Und schon ist er durch. Yeah! Ein sattes High-Five mit dem Bruder.
„Ich hatte versucht, die Brücke rechts außen anzufahren, um besser in die Linkskurve zu kommen“, meint Oskar und schiebt hinterher: „Alter, dann mitten auf der Brücke hatte ich voll den Flashback und sah mich schon wieder im Bachbett liegen!“ Moritz schreit rein: „Bist du aber nicht! Du stehst hier und hast es geschafft!“ Dass der Fullface-Helm durch Oskars breites Grinsen nicht von innen zerbirst, grenzt an ein Wunder. Ich nehme meinen Oskar in den Arm und zerdrücke ihn beinahe. Seine Angst scheint vollends verflogen und meine Schuldgefühle sind es auch!
Kein Bier vor Vier
Letztes Jahr war an dieser Stelle Schluss, dieses Jahr geht es ab hier erst richtig los. Wir nehmen den Rest des Trails in Angriff. Die Atmosphäre im Wald erinnert mich an den Waldmond Endor aus Star Wars und wir fahren so sicher wie Luke Skywalker auf einem imperialen Speeder-Bike. Da ist er wieder, der Bike-Oskar, an dessen Hinterrad wir kaum dranbleiben können. Er macht auf und wir treffen ihn erst am Ende des Antonius-Trails wieder. Dort feixt er: „Wow, der zweite Teil des Trails fährt sich mit beiden Händen am Lenker deutlich cooler“. Wir jubeln nochmals zusammen. Die Meter über den Steinberg-Trail bis zum Bacher Hotel vergehen wie im Flug. Fürs „Überwindungs-Hopfen“ ist es zu früh! Na gut, feiern wir den auferstandenen Heldenhalt mit Softdrinks und Kaffee.
Habt ihr ähnliche Situationen erlebt oder gibt es Stellen, die euch aufgrund eines Sturzes immer noch Angst bereiten?
58 Kommentare