Herbstzeit ist Testzeit: Letzte Woche wurden wir zu SRAM in Schweinfurt zum XX1-Camp eingeladen, um die neue Schaltung, die wir euch bereits im Juli kurz vorgestellt hatten, ausgiebig Probe zu fahren. Zudem bot man uns die Möglichkeit, uns ebenso ausgiebig mit den Entwicklern der neuen Top-Gruppe zu unterhalten – denn bis auf die in Kalifornien entwickelte Kurbel (wir berichteten) stammt die Entwicklung der kompletten XX1-Gruppe aus Schweinfurt/Deutschland.
Und wenn man schon das Privileg hat, den Entwicklern einer kompletten Schaltungsgruppe über die Schulter schauen zu dürfen, gibt es nun für euch natürlich ganz ausführlich die Infos über die Idee, Entwicklung und letztendliche Umsetzung dieser Gruppe – inklusive anschaulichen Bildern. Im zweiten Bericht folgt dann der XX1-Campbericht mit Foto-Hausbesuch bei SRAM Schweinfurt.
# Im SRAM-Basecamp in Schweinfurt
Die Idee
Die Idee, vorne ein einziges Kettenblatt zu fahren, ist nicht neu: Downhiller und Freerider fahren seit vielen Jahren in einem solchen Setup, verbunden mit 9 oder 10 Gängen am Heck. Während der Fokus bei Gravity-Bikern jedoch fast ausschließlich auf der Abfahrt liegt, wird hier gar keine große Übersetzung benötigt – für Enduro- oder gar XC-Fahrer waren solche Experimente angesichts der geringen Bandbreite jedoch bisher kaum sinnvoll.
# Erste Kettenblatt-Prototypen für 1×11
Als die ersten Zehnfach-Schaltungen aufkamen, ging es jedoch auch bei trail-orientierten Fahrern los, mit einer Einfach-Schaltung zu experimentieren – auch bei MTB-News.de, wo unser Redakteur Stefanus mit seinem „Defining Allmountain“-Projekt die Meinungen spaltete. Von „unsinnige 1 x 10 kombination“ bis „Ich würds gern ausprobieren um zu sehen, wie oft ich tatsächlich schieben muß. Je seltener es in der Praxis wäre, desto interessanter würde 1×10“ war das Feedback sehr spannend.
# Bringt durchaus Vorteile: 2fach hätte mit dieser Schlammpackung mehr Probleme
Auch SRAM experimentierte in den letzten anderthalb Jahren mit dieser Thematik, auch weil Teamfahrer wie Wolfram Kurschat oder Rémy Absalon seit geraumer Zeit 1×10 und 11-36er Kassetten ausprobierten, aber nie hundertprozentig zufrieden waren – die Bandbreite je nach Kettenblattgröße war entweder für Up- oder Downhill unpassend. Es musste also auf eine höhere Bandbreite hinauslaufen – so entstand die Idee der 10/42-Übersetzung in Verbindung mit 11 Gängen.
In der Theorie lagen die Vorteile auf der Hand:
- Das Schalten wird einfacher: Man schaltet nach oben, man schaltet nach unten. Umwerfer und das dementsprechende Schalten in Verbindung mit der Schaltwerksposition fallen weg.
- Gewichtsreduktion: Umwerfer, Kettenblätter
- Man kann Kassette, Schaltwerk und Kettenblatt speziell für die Einfachschaltung auslegen und somit eine sehr ordentliche Kettenlinie erzeugen.
Wie genau diese Schritte in der Praxis aussahen und wie die anderen Komponenten der Schaltung aufeinander aufbauend entwickelt wurden, erfahrt ihr in den folgenden Zeilen.
Das Schaltwerk
Bereits vor acht Jahren wurde mit der Art Schaltwerk experimentiert, welches nun als XX1-Komponente produziert wurde – statt der aktuellen Slant Parallelogram-Technologie bisheriger moderner Schaltwerke, mit der sich jenes mit jedem Schaltvorgang auch mit großen Kettenlängen-Differenzen passend zum Ritzel mitbewegt, funktioniert das XX1-Schaltwerk auf andere Art und Weise.
# Das SRAM XX1-Schaltwerk
# Die Schaltwerksspezialisten Andreas Benz und Robert Boehm
Das Prinzip des XX1-Schaltwerks wird „X-HORIZON“ genannt und definiert sich durch genau zwei Bewegungen:
1. Der obere Teil des Schaltwerks bewegt sich nicht mehr mit – lediglich Parallelogramm und Käfig führen je eine Bewegung aus. Durch das „straight parallelogram Design“, kurz „straight p“, bewegt sich dieses Parallelogramm rein horizontal mit der Achse und folgt so dem Kassettenprofil – von außen auf das Schaltwerk einwirkende Kräfte werden so minimiert. Die Vorteile laut SRAM: Durch dieses Design kann sich das Schaltwerk bei heftigen Schlägen auf das Hinterrad nicht mehr seitlich mitbewegen und verhindert das sogenannte Ghost Shifting praktisch komplett. Vertikale Bewegungen sind zwar theoretisch möglich, haben jedoch keine Auswirkungen in Bezug auf das Ghost Shifting.
2. Der Käfig rotiert, abhängig von der Kettenlänge, und sorgt so immer für eine voll gespannte Kette. Speziell möglich macht das die bereits im Type 2-Schaltwerk vorgestellte „Roller Bearing Clutch“: Eine rollengelagerte Art Kupplung, die sich in eine Richtung ohne großen Widerstand bewegt – in die andere jedoch höchst schwergängig ist. Schon beim Type2-Kurztest haben wir eine sehr gute Kettenspannung feststellen können, die Kettenklappern nahezu unmöglich macht und dafür sorgt, dass die Kette auch ohne Kettenführung nicht vom Kettenblatt fällt.
# „Roller Bearing Clutch“
Der „Nachteil“ des „straight p“-Konzeptes mit der horizontalen Parallelogramm-Bewegung: Es funktioniert definitiv nur mit einem Kettenblatt, da der Käfig sonst mit der Kassette oder gar den Speichen in Berührung kommen und beschädigt werden würde. Das Schaltwerk ist für eine weit geringere Kettenlänge als normale Schaltwerke ausgelegt und deshalb für jede Kettenblattgröße extra angepasst – so wird eine überflüssig lange Kette verhindert, was die Spannung erhöht und Kettenschläge reduziert.
Das XX1-Schaltwerk ist mit dem vom Type2 bekannten „Cage Lock“ ausgestattet, was in der direkten Praxiserfahrung tatsächlich ein hilfreiches Feature ist. Keine bahnbrechende Innovation, aber ein nützliches und simples Tool, um Hinterradausbau und Kettenwechsel beim durch die „Roller Bearing Clutch“ schwergängigen Schaltwerk zu erleichtern.
# Baukasten: Aus so vielen Teilen entsteht das XX1 Schaltwerk
# Entwicklungsstufen XX1-Schaltwerk
# Entwicklungsstufen des XX1 Schaltwerks
Die Kette
Bei 11 Ritzeln und identischer Nabenbreite musste die Kette zwangsläufig schmaler werden – und schmalere Ketten bedeuten im Normalfall auch höherer Verschleiß an Kette, Ritzel und Kettenblatt.
Um die XX1-Kette haltbar zu machen, wurde diese jedoch speziell behandelt: An Pins, Innenlaschen und Rollen wurde eine Oberflächenhärtung mit einer speziellen Chrom-Beschichtung durchgeführt. Im Verschleißtest benötigte die XX1-Kette im Vergleich zu einer regulären 10er-Kette viermal so lang bis zu einer Kettenlängung von 0.8% – was sie laut SRAM zur bisher haltbarsten SRAM-Kette überhaupt macht. Im Vergleich zur XX-Kette ist das XX1-Modell zudem nur an den Außenlaschen um 0.4mm Breite geschrumpft, um in die Ritzel hineinzupassen – die Innenbreite der Kette bleibt identisch.
# Die XX1-Kette
# Wieviel darfs denn sein? Zwei Kettenglieder mehr also normal werden bei der XX1 benötigt
Im Vergleich zu regulären Ketten gibt es bei der XX1-Kette jedoch einen entscheidenden Unterschied. Bei der Einstellung der Kettenlänge, bei der die Kette (ohne Schaltwerk) auf dem größten Ritzel sowie dem großen Kettenblatt aufliegt, sollen laut SRAM vier statt normalerweise zwei Kettenglieder hinzugefügt werden, um die hohe Übersetzungsbandbreite auszugleichen.
Die Kassette
Schon der ein oder andere Leser merkte entrüstet an, dass das Design der XX1-Kassette überhaupt nicht neu sei – dies stimmt jedoch nur halb. Fakt ist, dass schon die XX-Kassette in einem ähnlichen Verfahren teilweise aus einem Stück gefertigt wurde, was jedoch auch schon die einzige Gemeinsamkeit ist.
# Frästraum: Die XX1-Kassette
Gefertigt wird die Kassette aus Werkzeugstahl im Mushroom-Shape: Durch dieses Verfahren muss die Kassette nur einmal eingespannt werden, was das Risiko von Toleranzen erheblich mindern soll. Zunächst werden die einzelnen Ringe der späteren Ritzel ausgefräst (ca. 1.5 Stunden), im zweiten Schritt folgen die Aufnahme für das 42er-Alu-Ritzel, die Zähne, Löcher und weitere Ausfräsungen, was nochmals 1.5 Stunden dauert.
# Mushroom-Klotz – 1. Stufe – Ausfräsung der Verbindungsstücke für das Alu-Blatt
Wichtig hierbei ist, dass die Löcher erst zum Schluss herausgefräst werden, da sonst das Material beim Fräsprozess verformt werden könnte. Im gesamten Prozess werden 18 (zum großen Teil spezielle) unterschiedliche Werkzeuge angewandt. 35 Maschinen sind ständig im Einsatz, um die 260 Gramm leichten Kassetten zu produzieren.
# Die drei Entwicklungsstufen
Die Idee hinter den 11 Gängen der XX1-Kassette war folgende: Eine Gesamtübersetzung von über 400 % zu realisieren, allerdings mit dem Verzicht auf ein Ritzel mit 9 Zähnen – aufgrund des Polygon-Effekts. 10 Gänge erwiesen sich jedoch unter Anderem aus dem Grund als problematisch, da sich in jenen Kassetten im mittleren Bereich recht große Sprünge (zB. 15-18t) befinden – Abhilfe konnte da nur ein weiterer Gang schaffen. Durch die jetzige Bandbreite (10-12-14-16-18-21-24-28-32-36-42) konnte zudem das „symmetric shifting design“ realisiert werden – jeder benachbarte Gang lässt sich so durch die jeweilige Zahndifferenz teilen, was laut den SRAM-Ingenieuren ein sehr sauberes und zudem für jeden Gang identisches Schaltverhalten ermöglichen soll.
# Das große 42er Alu-Ritzel ist gebogen und folgt aus Platzgründen dem Winkel der Speichen
Der Freilaufkörper
Um die 11 Ritzel zu realisieren, musste der Freilaufkörper angepasst werden. Die Besonderheit hierbei liegt im Design der Aufnahme: Während die Kassette normalerweise einfach auf die Aufnahme draufgeschoben und festgeschraubt wird, ist der XX1-Freilaufkörper sehr präzise verarbeitet und verbindet sich beim Aufstecken straff mit der Kassette, was Bewegungen der Kassette unter hoher Last verhindern und eine hohe Schaltpräzision bieten soll. Gelöst wird die Kassette durch einfaches Herausschrauben des Abschlussrings.
Was einerseits zwar ein zusätzlicher Aufwand für Nabenhersteller als potenzieller Partner ist, beschränkt sich letzten Endes auf ein spezifisches Design dieses Freilaufkörpers bei dem nur das Außendesign angepasst werden muss – Nabe, Lager, Freilaufmechanismus oder Achsnabe sind davon nicht beeinflusst.
# Querschnitt
Neben DT Swiss und Mavic, die seit Beginn dabei sind, haben auch Bontrager, Specialized, Syncros, Stans, Hope, Easton, FRM, Tune, Novatec, Crank Brothers und Roval Kompatibilität für das Universal-System zugesagt. Mehr dazu auf: http://www.xddriverbody.com
# Konstruktionszeichnung für alle Dritthersteller
Der Shifter
Keine großen Veränderungen gibt es beim Shifter – dieser verfügt über ein Carbon-Cover und einen Schalthebel aus Carbon und ist Matchmaker-kompatibel. Im direkten Vergleich mit X9 schaltet der XX1-Shifter sehr kurz, knackig und direkt.
Das Kettenblatt
Das XX1-Kettenblatt unterscheidet sich in einigen Punkten von „regulären“ Kettenblättern – der größte Unterschied liegt im Zahndesign, bei dem jeder zweite Zahn verdickt ausgeführt wird. Somit passt jeder Zahn exakt in das entweder dicke oder dünne Kettenglied. Das Kettenblatt wird in sechs Größen angeboten: 28, 30, 32, 34, 36 und 38 Zähne.
# Vergleich: Normales Kettenblatt & XX1
# Funktioniert nur in jeder zweiten Position: Die Kette
Die Ring-Montage wird durch ein spezielles Spider-Design erleichtert: Die Kette wird beiseite geschoben, die vier Schrauben gelöst und das Kettenblatt direkt nach vorne abgenommen, ohne die Kurbel demontieren zu müssen. Die Gewinde für die Kettenblattschrauben sind direkt im Kettenblatt integriert, sodass die Schrauben nur von vorne hineingedreht werden müssen. Laut SRAM ist es außerdem möglich, ein nächstkleineres/größeres Kettenblatt montieren zu können, ohne die Kette kürzen zu müssen.
# Einfache Demontage des Kettenblattes durch im Kettenblatt integrierte Gewinde für die Kettenblattschrauben.
Und warum keine Kettenführung?
Intern hatten wir bereits Wetten abgeschlossen – einerseits, wer die XX1-Schaltung Lügen straft und die Kette runterbekommt; andererseits, woran es speziell liegt, dass dies gerade nicht passieren kann.
# Entwicklungsleiter und Kettenblatt-Experte Frank Schmidt
Fakt ist: Weder Jens, Maxi, Tobi oder ich haben es auf diversen Test-Ausflügen (Moab, Whistler und die SRAM-Testtrails in Schweinfurt) bisher geschafft, die Kette während der Fahrt vom Kettenblatt zu stoßen. Nach vielen Gesprächen mit Entwickler Frank Schmidt und den weiteren Entwicklerin der einzelnen Parts sind nun hier deren Erklärungen, warum dies aus konstruktionstechnischen Gründen nicht geschehen kann:
- Design der Zähne: Durch die unterschiedlich dicken Zähne des Kettenblattes wird die Kette weitaus besser geführt als auf regulären Zähnen – sie lässt sich geringer zu den Seiten verschieben und reduziert gerade bei ruppigen Passagen das seitliche „Schlackern“ der Kette.
- Parallelogramm des Schaltwerks: Wie im Unterpunkt bereits erklärt, bewegt sich das Parallelogramm nur noch parallel zur Achse, weswegen sich das Schaltwerk bei starken Einwirkungen von außen nicht mehr seitlich mitbewegen kann – Ghostshifting wird minimiert
- Spannung der Kette: Durch die „Roller Bearing Clutch“ ist die Kette extrem straff gespannt.
Fazit
Unsere ersten Eindrücke der neuen Gruppe sind sehr gut und die Schaltung funktioniert wie gewünscht – bisher hatten wir an unseren mittlerweile recht vielen Testtagen noch keine Ausfälle oder fehlerhafte Schaltvorgänge registriert. Für 2013 haben wir nun ein Langzeittestbike erhalten, mit dem wir in der kommenden Saison ordentlich Gas geben und uns anschauen wollen, wie sich die XX1 auch nach langer Testzeit verhält. Alle Eindrücke gibt es natürlich im nächsten Jahr im Langzeitbericht!
Preise
Von vorneherein und auch schon in unserem Info-Thema beschrieben war klar, dass die XX1 als SRAMs neue Top-Gruppe definitiv nicht günstig wird – die für uns spannende Frage wird sein, wo die letztendlichen Straßen-, Online- und OEM-Preise liegen, die sich traditionell nach einiger Zeit ein gutes Stück nach unten bewegen.
[DDET Die Preise zum Ausklappen gibt es hier]
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Weitere Informationen
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Fotos: Johannes Herden, Sebastian Schieck
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