Spätestens mit der Einführung von 29ern hat es die Mountainbike-Industrie geschafft, den Endverbraucher beim Kauf eines Mountainbikes zu verunsichern. Die Masse an Auswahlmöglichkeiten hat in den letzten Jahren überwältigende Ausmaße angenommen. XC-Bikes, Trail-Bikes, All Mountain-Bikes etc., die Liste ist lang und darüber hinaus ist mittlerweile alles in zwei, ja sogar drei Laufradgrößen zu bekommen. Von der fast schon unüberschaubaren Technik am modernen Mountainbike einmal abgesehen, muss sich der Kunde nun auch noch mit der Reifengröße befassen. Totale Verwirrung und letzten Endes gar Verunsicherung machen sich breit. Doch genau das ist es, was die neuen „27+“-Reifen bekämpfen möchten: Verunsicherung.
Update: Einen Test der Specialized Ground Control 6FATTIE Reifen findet ihr hier: mtbn.ws/n28t6

27+: ein Trend unter vielen oder doch logische Evolution?
„27+“-Reifen können uns Kunden die Verunsicherung beim Neukauf nicht nehmen, das ist klar, doch auf dem Trail sollen sie genau das bekämpfen, die Unsicherheit. Mehr Fahrsicherheit dank größerem Reifenvolumen, so die Idee, die hinter einem Trend steckt, der schon bald vom Trend zum Alltäglichen mutieren könnte. Die bis zu 3,2″ breiten „27+“-Reifen können zugunsten einer besseren Bremstraktion, erhöhtem Kurven-Grip und einem Plus an Fahrkomfort mit deutlich weniger Luftdruck gefahren werden als herkömmliche MTB-Reifen. Und das, ohne beim Pedalieren den Energieverbrauch dabei nennenswert in die Höhe zu treiben – so zumindest die Theorie.
Doch wer soll davon profitieren? Der Cross Country World Cup-Racer? Wohl eher nicht, denn für ihn wird spritzige Beschleunigung immer vor Komfort und Sicherheit gehen. Der Enduro-Pilot, der auf letzter Rille der Bestzeit hinterher jagt? Wohl auch nicht, denn bei seinen Geschwindigkeiten dürfte das dezent unpräzise Lenkverhalten aufgrund fehlender Dämpfung im Reifen zu sehr stören. Aber wer braucht „27+“ dann? Wir, die wir nicht nach Sekunden jagen! Wir, die wir nicht mit der Radbeherrschung eines Nino Schurter gesegnet sind! Wir, die wir einfach nur Spaß daran haben mit dem Rad ins Gelände zu gehen! Uns ganz normalen Bikern kann ein Plus an Sicherheit nicht schaden. Ganz im Gegenteil! Sind wir einmal ehrlich zu uns selbst, so müssen wir uns eingestehen, dass wir für jedes Mittel dankbar sind, dass uns auf der nächsten Singletrail-Tour noch mehr Freude am Fahren beschert.
Ein Indikator dafür, dass wir Mountainbiker uns nach mehr Sicherheit im Gelände sehnen, ist der überraschend hohe Absatz von Fatbikes, welche hierzulande sicherlich nicht aufgrund von widriger Untergrundbeschaffenheit Anklang finden. Es ist der SUV-Effekt, der dicke Reifen interessant macht. Das Plus an Sicherheit, welches sich durch ein gutmütiges und vor allem sehr vorhersehbares Fahrverhalten dieser dicken Reifen ergibt. Es lässt sich bisher ungeahntes Selbstvertrauen schöpfen, wenn wir die Möglichkeit haben in jeder Fahrsituation Herr der Lage zu sein. Alles voll im Griff dank mehr Traktion! Dieses neu entdeckte Selbstvertrauen wird uns Mountainbikern zukünftig ermöglichen, Trails für uns zu entdecken, an die wir uns aufgrund mangelnder Erfahrung und fehlender Fahrtechnik bisher nicht zu wagen trauten.
Effizienz rückt in den Hintergrund, ganz nach oben genanntem Vorbild verbrauchsstarker jedoch komfortabler SUVs. Während sich auch unser Verhalten im Straßenverkehr gewandelt hat, weg vom Jedermann-Rennfahrer hin zum gemütlichen Cruiser, so erlebt auch die Mountainbike-Szene diesen gesellschaftlichen Wandel. Längst zählt es nichts mehr auf der Feierabendrunde Schnellster der Gruppe zu sein, oder bei der Bergtour am Wochenende als Erster den Gipfel zu erreichen, viel mehr geht es um den Fahrspaß als solchen, dem Spaß am Befahren von Singletrails, weit abseits befestigter Straßen und Wege.
Die Idee ist nicht neu, denn übermäßig breite Reifen tauchten in der Geschichte des Mountainbikes immer wieder auf. Durchsetzen konnten sich die richtig dicken Reifen jedoch nie, doch könnte sich das jetzt ändern. Dank modernster Material- und Fertigungstechnik ist es der Industrie nun möglich, auch fette Reifen mit guten Rolleigenschaften und vertretbaren Gewichten zu produzieren.


Und da wir Mountainbiker ein optimierungslüsternes Volk sind, das gerne in so manches Nachrüst- und Tuning-Bauteil investiert, ist es an der Zeit, unseren Verbesserungstrieb endlich dort zur Geltung kommen zu lassen, wo er am dringendsten nötig wird: am Reifen. Als direkter Kontaktpunkt zwischen Bike und Untergrund ist der Reifen maßgeblich für unsere Fahrsicherheit und die Fahrdynamik unseres Bikes verantwortlich. Umso unverständlicher daher, dass sich immer noch eine große Masse mit Reifendrücken weit über 2 Bar durchs Gelände quält. Auch teure Fahrwerks-Tunings bringen nichts, wenn der abgefahrene Reifen die neu gewonnene Bodenhaftung nicht in Traktion umwandeln kann. Höchste Zeit also, sich intensiver mit dem Bauteil Reifen auseinanderzusetzen und ihm die Aufmerksamkeit entgegenzubringen, die er verdient.
„27+“-Reifen bieten einem beachtlichen Großteil von uns Mountainbikern die Möglichkeit ein „Tuning“ ans Bike zu bringen, das die Fahrfreude so intensiv verbessern kann wie kaum eine andere Investition. Das nicht jeder davon profitieren wird liegt auf der Hand, doch sind die wenigsten von uns auf World Cup-Siege oder Rampage-Titel aus.
Um von den Vorteilen eines „27+“-Reifens profitieren zu können, bedarf es letztlich einer einzigen Voraussetzung: der selbstkritischen Einschätzung des eigenen Fahrkönnens und der Fahrvorlieben. Bewege ich mein Mountainbike artgerecht im Gelände oder ist es doch nur ein komfortables Rennrad, das ich überwiegend auf Teer- und Schotterstraßen spazieren fahre? Ist mein Fahrkönnen so gut, dass ich auf die Unterstützung, die mir ein solcher Reifen zukommen lässt, verzichten kann? Ist es ok für mich, bei der nächsten Bergtour zehn Minuten später am Gipfel zu sein? Wer diese Fragen selbstkritisch und ehrlich beantwortet wird schnell wissen ob für ihn die Zukunft in „27+“ liegt oder nicht!
Vorschau: Teil 2 mit Test des Specialized Ground Control 6FATTIE
Was ein solcher „27+“-Reifen wirklich kann, möchten wir euch morgen anhand eines umfangreichen Praxistests erläutern. Hierfür stellte uns Specialized seine brandneuen Ground Control 6FATTIE Reifen (650b x 3″) zur Verfügung. Aufgezogen auf leichten Roval Traverse SL Fattie Laufrädern mit einer 30 mm (Innenbreite) breiten Carbon-Felge, mussten sich die Reifen unter unterschiedlichsten Bedingungen beweisen. Was die neuen 6FATTIE (27+) Reifen können und wer wirklich von ihnen profitieren kann erfahrt ihr morgen!
Hier zum Test: mtbn.ws/n28t6
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- Redaktion: Maxi Dickerhoff
- Bilder: Kai Christian, Maxi Dickerhoff, Tobias Stahl
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