Mein schlimmstes Ferienerlebnis

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8. Dezember 2001
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Weinwüste/Rheinhessen
Hier mal ein kurzer Bericht von meinem Aufklärungsritt in die Welt des einen Gangs. Bilder gibts leider keine, was niemand mehr bedauert als ich, hätte mir der Fotovorwand doch willkommene, nein: bitter nötige, Verschnaufpausen gewährt.

Robben mit Rob oder: Wie ich die tiefste Gangart lernte

Der fünften Jahreszeit abhold, hatten wir am Abend der Weiberfastnacht den Wagen mit Kind, Kram und feinen Fahrrädern gefüllt, und nach nur fünf Stunden erhob sich Berlin aus der dunklen Ebene vor uns, vier narrenfreie Großstadt-Tage verheißend. So weit, so gut.
Sonntagabend waren wir zu einem informellen Treffen mit Rob und rikman verabredet zwecks gepflegten Zäpfelns. Wir taten dies in einem von rikman auserwählten Etablissement im Ostteil der Stadt, das neben netter Atmosphäre und Soli-Rückerstattungen in Form kostenlosen Flammkuchens auch das unerlässliche Rothaus bereithielt.
Dessen Wirkung schreibe ich den Moment akuten Leichtsinns zu, in dem ich mich dazu hinreißen ließ, Robs Einladung anzunehmen, ihn auf seiner morgigen Ausfahrt zu begleiten. Nicht nur das. Ich hab mich gefreut! Eigentlich hab ich drum gebettelt.
Das Ausmaß dieses Fehlers bemerkte ich am folgenden Vormittag. Mit leichter Verspätung waren wir am Prenzlauer Berg gestartet und durch Marzahn in eine mir unbekannte Richtung gefahren. Irgendwann hörte die Platte beidseits der sechsspurigen Magistrale auf, diese verjüngte sich zur Landstraße, später Allee, und geschätzte 35 km später hielten wir am Ortsrand von Straußberg und luden die Räder aus.

Ab jetzt geht alles im Zeitraffer. Rob setzt sich auf dieses schamlos leichte Trek, wir überqueren die Landstraße, und er stürzt sich in einen Singletrail, der eine wellige Achterbahn am Seeufer ist. Er fließt über den Trail wie Sauce Bearnaise. Kleine Wolken märkischen Sandes stieben von seinem eher weich aufgepumpten Hinterreifen hoch, dem ich unter Sauerstoffschuld folge. Wie im Videospiel surfen wir über Kuppen und durch Anlieger und Senken, in denen Seewasser schwappt, winkeln um krüppelige Eichen. Robs Trittfrequenz ist flüssig, nicht hektisch, und das ganze Rad scheint extra auf diesen Weg zugeschnitten. Da klappert und rasselt nichts, keine Kette schlägt, das Ganze wirkt beinahe schwerelos. Auch ich habe meine Schalthebel seit Minuten nicht angefasst und beginne zu denken, dass ich auch so ein Rad hätte, wohnte ich hier, denn hier, das war auf der Hinfahrt offensichtlich, ists ja flach...
Wir verlassen See und Trail über einen ansteigenden Forstweg. Es lebe die Schaltung, von der ich jetzt vehement Gebrauch mache, was dank Daumenschaltern ja auch haptisch ein Genuss ist. Mittlerweile köchle ich im eigenen Saft und würde diese Steigung jetzt gemütlich hochzockeln, um wieder aufzutanken für die Abfahrt, die da kommt. Aber das geht nicht, denn der Singlespeeder erlaubt nur ein gewisses Tempofenster, also heißt's kurbeln.
Während ich dem Myocardinfarkt nah bin, plaudert Rob und preist den Komfort seiner starren Pace-Gabel. Das Ding scheint Wunder zu vollbringen, denn der Untergrund ist die Pest. Heftig verzögernde Sandpassagen (Ich hasse Sand!) wechseln sich mit weitläufigen Gebieten ab, in denen offenbar Myriaden von Wildschweinen jedes Sandkorn auf links gezogen haben. Die dünne Bewuchsschicht des Waldbodens liegt zu harten Klumpen gerollt herum, und das ewige Gestucker zehrt trotz fluffiger Federgabel an meinen Nerven. Rob scheint einfach drüberzugleiten, und ich komme zu dem Schluss, dass Eleganz und Kondition offenbar eng verwandt sind.
Mittlerweile erinnert die Tour eher an eine Durchschlageübung quer durchs Schwarzkittel-Revier, oft vorbei an kleinen Seen. Wenige Male kreuzen wir Straßen, um direkt wieder im Gebüsch zu verschwinden. Die Topografie wird hügeliger, analog dazu wechselt mein Betriebszustand zwischen überhitzt und unterkühlt (bei um die Null Grad Außentemperatur). Mein Führer segelt die Anstiege hoch wie von magischer Kraft beflügelt, und mir fällt wieder ein, dass er am Vorabend von Singlespeed-Alpenüberquerungen erzählt hat; die Erinnerung wurde wohl versehentlich vom Tannenzäpfle in den mentalen Mülleimer verschoben.
Dann bleibt der Wald zurück, die Landschaft öffnet sich, und wir holpern über rotes Kopfsteinpflaster durch winzige Weiler mit den Namen russischer Schachweltmeister: Ihlow, Glienow, Karpow, oder so ähnlich. Wir sind vielleicht 60 km außerhalb von Berlin, aber hier ist die Zeit in den 50ern verharrt. Niedrige Bauernhäuser scharen sich um winzige Bruchsteinkirchen und kleine Löschteiche, die Hauptstraße gepflastert, Nebenstraßen unbefestigt. Auf den Feldwegen steht uns der Wind ins Gesichter und belastet mein Sauerstoff-Dispo bis ans Limit. Es folgt eine längere Abfahrt, auf der ich Rob nichtmal mehr durch die Kraft der 24 Gänge halten kann, ein wirklich berückender Trail an einem Bach entlang, und dann rollen wir nach Buckow herein und entern die Frittenschmiede.

Die Trommel hinterm Tresen – Format Weather Girl - hatte in ihrem Leben noch kein Fahrrad bestiegen, und ich beneidete sie darum. Dafür überzeugte sie mit fundierten Kenntnissen in der Bereitung fritierter Kartoffelstäbchen. Aber weder die noch das Radler vermochte die verbrauchten Energien zurückzubringen. Vor mir stand meine Mütze auf dem Tisch, von kristallisierter Schweißlake zum Helm verfestigt. Muss I denn, muss I denn...? I muss!

Raus aus der Hütte, rauf aufs Rad und weiter. Rechts fliegt kurz darauf das Ferienhaus von B. Brecht und Kurt Weill vorbei, mit malerischen Blick auf den Buckower (?) See. Dann Suche nach dem Eingang zu einem Pfad, der sich hinterm Haus eines Holzrückers versteckt hat. Entsprechend siehts hier aus: tiefe Traktorspuren, Knüppelholz kreuz und quer und – Sand (Erwähnte ich, dass ich Sand hasse?). Den Rest der Tour verbringe ich im Delirium, aus dem ich nur einmal kurz erwache, um Rob zu verdeutlichen, dass mein Bedarf an bergradtouristischen Pisten weitgehend gedeckt ist. Von einem mit Dornbüschen zugewachsenen Weg (kein Platten, immerhin) wechseln wir aufs freie Feld (Wind!) und irgendwann wieder auf eine abschüssige Erdstraße, die zum freien Blasen wie gemacht wäre, hätten Autos und Lkw nicht ein langamplitudiges Wellenmuster hineingefräst. Sitzen ist nicht – super!
Dann – endlich – Asphalt! „Nur noch 10 km bis zum Auto“, ermuntert Rob, an dessen Hinterrad ich lutsche. Doch dann schaff ich es nochmal, mich zu ermannen und auch ein wenig Führungsarbeit zu leisten. Verblüffend, welch zügiges Tempo mit dem Singlespeeder bei moderater Trittfrequenz möglich ist auf diesem glatten Geläuf! Und dann das Auto - hurra, ich lebe noch!

Zurück in Berlin, reichten die Vitalkräfte gerade noch zur Nahrungsaufnahme bei meinem Neuköllner Türken-Imbiss, von da gings in tiefster Gangart mit Umweg über ein Bier gleich ins Bett –Night on earth um halb elf!

Fazit: Bloody hell! Zwei Erkenntnisse: 1.: Ich hasse Sand! Und 2.: Gelobt sei die Schaltung! Ein Gang ist was für Fitfu**er, aber nicht für blutige Kitzler-Kitzler wie mich.

@Rob: Danke, geile Tour! :daumen: Im Sommer gern nochmal (Mutti, ich hab Angst!)

Steinhummer (inzwischen rekonvalesziert)
 
@ Steinhummer:
klasse Bericht und willkommen im Club, selbiges ist mir im letzten November mit El passiert, als uns Rob den Guido gemacht hat. Nach Deinem Bericht zu urteilen, sind wir das Ganze in entgegengesetzter Richtung gefahren. Die Gegend nennt sich Märkische Schweiz. Schade, das die "Dingensmühle" (Name leider entfallen) noch nicht wieder geöffnet hatte, die ist Kult und hat lecker Kuchen.

Wie wärs mit nem Selbsthilfe-e.V. der Eisenschweinkader-Geschädigten. Sind Psychologen anwesend?

vorallem, weil ich am Vorabend noch beim SfdW war und mein Kopf leichte Nachwirkungen anzeigte; Rob hatte ja fast nichts getrunken :D

bez. Mühle, die war bei uns noch auf - ich hatte das auf Euch bezogen
 
Fantastisches Machwerk! Flüssig geschrieben/gefahren; musste lauthals lachen und fühlte mich ob des Stils an Frank Schulz (Morbus Fonticuli oder: Die Sehnsucht des Laien :D ) erinnert. Lust auf Radln bekommen...Respekt! :daumen:
 
Steinhummer schrieb:
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Die Trommel hinterm Tresen – Format Weather Girl - hatte in ihrem Leben noch kein Fahrrad bestiegen, und ich beneidete sie darum. Dafür überzeugte sie mit fundierten Kenntnissen in der Bereitung fritierter Kartoffelstäbchen. Aber weder die noch das Radler vermochte die verbrauchten Energien zurückzubringen. Vor mir stand meine Mütze auf dem Tisch, von kristallisierter Schweißlake zum Helm verfestigt. Muss I denn, muss I denn...? I muss!

@ Steinhummer
Super Bericht und sehr bildhaft, habe beim Lesen direkt mitgelitten. :D Solche Berichte verschönern einem doch immer wieder den Arbeitsalltag vorm PC.
Vielen Dank dafür :daumen:

Steinhummer schrieb:
.Steinhummer (dennoch heimlich an nem SSp arbeitend, weil er gehört hat, dass das Kraft und Kondition bringen soll :D )

Ich arbeite auch schon heimlich an einem SSp, aber mit Kraft und Kondition wird's bei mir wohl nichts mehr.
Gruss Gipsy
 
das war wirklich das beste was ich seit langem hier im forum gelesen habe. glänzende ausdrucksformen, bildhafte bildhaftigkeit und hier und da etwas über- und untertreibung - wunderbar. der bike-literaturpapst hat zugeschlagen :). zum glück, denn es war wirklich eine schöne tour, nur fand ich im nachhinein nicht die muße ein paar zeilen zum besten zu geben.
man muss sagen, dass steinhummer, ganz entgegen vermutungen, die sich aus seinen beschreibungen so leicht ableiten zu scheinen lassen, gut mithielt. und die letzten drei kilometer drehte er nochmal richtig auf und ich hatte arge mühe in seinem windschatten hängen zu bleiben.

es freut uns in berlin ja immer sehr, wenn wir auswärtige von der reizvollen umgebung der hauptstadt überzeugen können.
das sommerhaus am scharmützelsee in buckow ist im übrigen jenes von brecht und waigel gewesen.

den trainingseffekt des singlespeedens kann ich aber leider nicht bestätigen, den des weizenbieres hingegen schon :bier:


Rob hatte ja fast nichts getrunken
hey! ich glaub's wohl...:p

rb
 
... erste sahne :love: klasse, wunderschön.
mein bisheriger favorit diesbezüglich war rick und robmäns bericht über die hannibalsche alpenüberquerung im berlin forum.

:daumen:
flo

iohhättegerneeineerstausgabemitsignatur
 
rob schrieb:
man muss sagen, dass steinhummer, ganz entgegen vermutungen, die sich aus seinen beschreibungen so leicht ableiten zu scheinen lassen, gut mithielt. und die letzten drei kilometer drehte er nochmal richtig auf und ich hatte arge mühe in seinem windschatten hängen zu bleiben.

rb

Danke, ganz lieb, Rob, aber vielleicht sollten wir nicht unerwähnt lassen, dass dein und mein Puls etwa um den Faktor 100 auseinanderdrifteten.

@all: Danke für die Blumen :love: - ich bin gerührt!

Und jetzt werd ich mir mal den SSp-Reisebericht reinziehen.

Steinhummer
 
Ja, dicken Applaus von mir!

Das hat der Pitt sehr fein gemacht*, habe hier im Forum lange nichts darart Schoenes gelesen.

Weiter so und einen schoenen Wochenstart.

Marcus

* ich sag doch immer, dass Zaepfle gut fuer die Kreativitaet ist -- eigentlich ist es ja auch gut fuer ALLES
 
:daumen: Klasse Bericht und tolle Werbung für August!
...oder doch Abschreckung :confused: ,
ach ne, da geht's ja ums Saufen nicht ums Radfahren, nochmal Glück gehabt. :D


marc
 
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