Standardisierter Wahnsinn oder neue Evolutionsstufe?
Was waren die Zeiten schön, damals als man fast jedes Teil von einer Fahrradmarke an die andere schrauben konnte. Als Teilehersteller einen Vorbau, einen Steuersatz, etc. für fast alle Rahmenmarken herstellen brauchten. Die Zeiten mussten vor allem für Bastler ein wahres Paradies gewesen sein. Ganz einfach konnte man seinen neuerworbenen Bike-Rahmen mit den Anbauteilen seines alten Gefährtes aufbauen und nach und nach die Karre weiter bis zu seinem eigenen, perfekten Boliden pimpen.
In den letzten Jahren müssen sich vor allem die Bastler unter uns fragen, wo bewegt sich die Bikeindustrie da bloß hin? Während man bei der Einführung der Scheibenbremse noch einen starken Leistungssprung gegenüber Candis feststellen konnte, ist der Unterschied zwischen 26 Zoll und 650B für die meisten Biker doch marginal. Die Folgen, die Kosten auf den neuen Standard zu wechseln sind allerdings mindestens genauso teuer (neuer Rahmen + Federgabel, etc.). Wer nicht jede Zehntelsekunde über Stock und Stein auf seiner Hausrunde zählt, der würde auch mit 26 Zoll noch viele Jahre Spaß haben. Genauso verhält es sich bei neuen Achsstandards, Lenkerdurchmesser und Dämpferlängen. Leichter, steifer, schöner, teurer! Und ob der Ottonormalbiker damit wirklich schneller, steifer und schöner unterwegs ist, merkt er doch eh nicht.
Allzu oft wird die Bikeindustrie mit der Autoindustrie verglichen, doch dieser Vergleich hinkt. In der Automobilindustrie gibt es fast kein einziges Bauteil das von den Herstellern untereinander ausgetauscht werden könnte. Ich kann weder den schnittigeren Kotflügel von Mercedes an einen Porsche schrauben, genauso wenig wie ich die schönere Ford-Stoßstange an einen Volkswagen bauen kann. Selbst beim Tuning passt der Böse Blick des Zulieferer nur zu ein bis zwei Scheinwerfern, wenn überhaupt. Würde man zu BMW in eine Werkstatt gehen und sagen, ich hätte gern euren neuen, schnelleren und sparsameren Motor, würde aber den Rest meines Dacias behalten wollen, sie würden die dich für verrückt erklären. Natürlich gibt es hier auch Kooperationen untereinander um Entwicklungsgeld zu sparen, aber das nützt den Individualisten unter uns herzlich wenig.
Scheinbar verfolgt die Bikeindustrie den gleichen Weg. Mit Cannondale und Specialized haben wir zum Beispiel zwei Marken, die ihre ganz eigenen Standards kreieren. Um das Optimum aus den Bikes herauszuholen ist diese Herangehensweise vielleicht gar nicht mal so verkehrt, jedoch bleibt dann für die Individualisierung durch den Endkunden kaum noch Platz. Dann fährt man mit dem selben dunkelblauen Skoda Oktavia RS durch die Wälder wie 1000 andere auch.
Die meisten Endkunden wird es vielleicht nicht mal auffallen, dass ihr neues Bike durch irgendein geändertes Durchmessermaß leichter und steifer geworden ist, als das Vorgängermodell. Rennfahrer und die, die sich dafür halten begrüßen natürlich jeden Fortschritt um noch mehr Sekunden gutmachen zu können. Gesponserte Biker fahren eh immer das Neuste vom Neuem, bekommen von der Bikeindustrie jede Saison neue Bikes vor die Nase gestellt. Das dient logischerweise nicht nur zum Testen des neuen Materials, sondern auch zum Bewerben des Selbigen. Übrig und vielleicht sogar auf der Strecke bleiben die Individualisten, die mit ihrem Bike etwas besonderes ausdrücken, etwas Besonderes sein möchten. Die Tuner unter uns werden es in Zukunft immer schwerer haben. Wie beim Auto schon jetzt, wird ein Tuningumbau teuer und wird wahrscheinlich auch mehr Eigeninitiative in Form von Eigenbaulösungen bedeuten.
Eines muss an dieser Stelle aber eingestanden werden: Das große Geld verdienen die Bikehersteller am Verkauf von Komplettbikes. Der Endkunde fährt dieses Bike dann mehrere Jahre ohne Änderung, bis es eben auseinanderfällt und er sich ein Neues zulegt. Mit den Individualisten unter uns wird man nicht solche Gewinnmargen generieren können. Individualisten pflegen und warten ihre Bikes selbst und wenn sie nicht gerade Lust auf ein Neues Projekt haben, halten ihre Bikes auch ein Leben lang. Bewegen Individualisten ihre Bikes außerdem schnell und am Limit, werden sie es in Zukunft schwerer haben kostengünstig ihre Defekte auszutauschen bzw. ihren Hobel auf den neuesten Stand zu bringen. Sie werden dann zum komplett neuen Bikekauf regelrecht gezwungen, was dann wiederum der Bikeindustrie nicht schaden dürfte.