Hier gehen ja einige Begrifflichkeiten etwas durcheinander wie mir scheint. Ich glaube wir sollten da erst mal grundsätzlich ein paar Definitionen und Begrifflichkeiten allgemein durchgehen, damit nicht jeder von was anderem redet.
Fangen wir mal mit dem Nachlauf an:
Der Nachlauf steht in direktem kausalem Zusammenhang mit Lenkwinkel und Gabeloffset und ist in keiner Weise unabhängig von diesen beiden Größen: der Nachlauf lässt sich direkt aus Lenkwinkel und Offset berechnen.
Was ist der Gabeloffset? Das ist der Abstand zwischen der Nabenachse (Ausfallende der Gabel) und der verlängerten Linie durch die Mitte des Schaftrohrs.
Was ist der Nachlauf? Das ist der horizontale Abstand zwischen dem Aufstandspunkt des Vorderrads und dem Schnittpunkt der verlängerten Linie durch die Mitte des Steuerrohrs mit dem Boden.
Generell wird der Nachlauf größer wenn der Lenkwinkel flacher wird, und umgekehrt wird der Nachlauf kleiner bei steilerem Lenkwinkel. Ein kleinerer Gabeloffset vergrößert den Nachlauf, ein größerer Gabeloffset verkleinert den Nachlauf.
Welche Rolle spielt der Nachlauf nun beim Fahrradfahren?
Der Nachlauf ist eine (die) Schlüsselkomponene in der Fahrphysik eines Fahrrads. Zusammen mit dem drehbaren Vorderrad ermöglicht er dem Fahrrad, sich bei Auslenkungen aus der Vertikalen selbst zu stabilisieren, selbst wenn hypothetisch kein Fahrer drauf sitzt. Ein größerer Nachlauf führt zu besserer Selbst-Stabilisierung bei größeren Auslenkungen.
Weiter geht's mit dem Begriff der "Laufruhe", der hier in der Diskussion sehr gerne angeführt wird.
Ich finde, wir sollten diese ominöse "Laufruhe" erst mal auftrennen in zwei Aspekte: die "Laufruhe" des Fahrrads unabhängig vom Fahrer, und die "Laufruhe" des Fahrrads in Bezug auf Aktionen des Fahrers.
Die Laufruhe des Fahrrads entkoppelt vom Fahrer wird stark beeinflusst von den beiden Größen Nachlauf (Lenkwinkel, Offset) und Radstand, die hier ebenfalls sehr oft genannt wurden. Nachlauf siehe oben. Ein größerer Radstand beeinflusst ebenso die Laufruhe des Fahrrad ansich, vor allem im Grenzbereich der Traktion. Je weiter die beiden Aufstandspunkte von Vorder- und Hinterrad voneinander entfernt sind, desto geringer ist die Winkelauslenkung des gesamten Rads, wenn z.B. das Hinterrad zur Seite ausgelenkt wird (verspringt oder wegrutscht). Man kann also sagen, dass das Fahrrad ansich entkoppelt vom Fahrer bei Geradeausfahrt umso laufruhiger wird, je größer der Nachlauf und Radstand werden.
Die Laufruhe in Bezug auf Aktionen des Fahrers wird stark beeinflusst von Vorbaulänge und Lenker (die Komponenten, über die der Fahrer Kraft ins Fahrrad einleitet). Ein längerer Vorbau sorgt bei gleicher Amplitude der Lenkbewegung für eine geringere Auslenkung des Vorderrads. Somit werden "unbeabsichtigte" Lenkbewegungen des Fahrers nicht so stark aufs Fahrrad übertragen. Dasselbe gilt für die Lenkerbreite. Auf der Kehrseite erfordert ein kürzerer Vorbau (oder weniger Lenkerbreite) mehr Kraftaufwand des Fahrers um eine Lenk- oder Kippbewegung auszuführen (weniger Hebel).
Wenn ein Fahrrad mehr über Lenkerdrehung als über Schräglegen des Fahrrads gesteuert wird, kann es vorteilhaft sein, einen längeren Vorbau (geringerer Kraftaufwand beim Lenken) mit einer kürzeren Lenkerbreite (um die benötigte Amplitude der Lenkbewegung und damit die Lenkträgheit nicht zu groß werden zu lassen) zu kombinieren. Wenn ein Fahrrad hingegen viel über Schräglegen gesteuert wird, macht es Sinn, den gegenteiligen Weg zu gehen: kürzerer Vorbau für direkteres Lenkverhalten und breiterer Lenker für weniger Kraftauwand und mehr Kontrolle bei Kippbewegungen. Aus diesem Grund haben moderne Mountainbikes auch meistens eher kurze Vorbauten und breite Lenker.
Ein kurzer Vorbau zusammen mit einer kurzen Lenkerbreite ist meistens suboptimal, da zu viel Kraft zum Steuern erforderlich wird. Ebenso ist ein langer Vorbau zusammen mit einer großen Lenkerbreite suboptimal, da die benötigte Lenkamplitude und damit die Lenkträgheit zu groß wird.
Dann die "Wendigkeit", ebenfalls exzessiv genutzt in dieser Diskussion.
Diesen Begriff finde ich am schwierigsten, da er sehr subjektiv ist. Jeder empfindet "Wendigkeit" anders, und es hat auch einfach stark damit zu tun, wie man auf dem Fahrrad sitzt und in welchem Gelände man mit welcher Geschwindigkeit unterwegs ist. Daher ist es sehr schwer, das an objektiven Geometrie-Eigenschaften festzumachen.
Was man objektiv sagen kann: ein steilerer Lenkwinkel sorgt für direkteres Einlenken des Vorderrads beim Drehen des Lenkers. Das wird vermutlich vor allem von Fans der klassischen Geometrien mit steileren Winkeln als "Wendigkeit" empfunden. Allerdings, wenn das Fahrrad auch oder mehr durch Schräglegen gelenkt wird, kommt der Nachlauf wieder ins Spiel. Hier sorgt ein größerer Nachlauf (u.a. verursacht durch einen flacheren Lenkwinkel) dafür, dass sich das Fahrrad bei größerer Auslenkung selbst stabilisiert und so stabiler um eine enge Kehre fahren kann als ein Fahrrad mit geringerem Nachlauf... aber eben nur wenn es durch Schräglegen gelenkt wird. Dies ist der Grund, warum sich moderne Mountainbikegeometrien mit sehr flachen Winkeln ebenfalls gut durch Kurven steuern lassen (angepasste Fahrtechnik vorausgesetzt), was wiederum von Fans von flachen Newschool-Geometrien als "Wendigkeit" empfunden wird.
Das alles ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ich befürchte man könnte noch mindestens 10x so viel tippen um alle Aspekte abzudecken.
Zur Diskussion:
Ich finde durchaus, dass Gravelbikes nicht unbedingt auf Lenkwinkeln >70° hängenbleiben müssten, so wie es momentan ist. Das ist imo eher ein Relikt aus der Abstammung dieser Radgattung von den Cyclocrossern. Nur weil man das so kennt, muss es nicht das beste, "alternativlos" oder der Weisheit letzter Schluss sein, aber der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Bei Mountainbikes ist man ebenfalls mittlerweile bei Geometrien, die vor wenigen Jahren noch als absolut unfahrbar oder viel zu krass galten.
Da ich gerade an einem eigenen Projekt zu einem "Monstergravel" auf Basis einen Mountainbike-Rahmens dran bin, hab ich mir besonders zum Thema Lenkwinkel/Vorbaulänge in letzter Zeit ein paar Gedanken gemacht und etwas rumexperimentiert. Meiner Meinung nach muss man jede Einzelkomponente der Fahrradgeometrie zwingend im Gesamtkonzept mit allen Zusammenhängen betrachten, damit was stimmiges dabei raus kommt. Sprich, man kann nicht einfach eine einzelne Größe eines stimmigen Konzepts stark verändern, z.B. einen kurzen Vorbau an eine klassische Crosser-Geometrie schrauben, oder den Lenkwinkel flacher machen ohne den Rest der Geometrie+Aufbaus ebenfalls anzufassen.
Meiner Erfahrung nach ist einer der wichtigsten Zusammenhänge für ein stimmiges Fahrverhalten der zwischen Lenkwinkel und Vorbaulänge. Umso steiler der Lenkwinkel desto länger muss für mich der Vorbau sein, andersrum wenn ich einen kürzeren Vorbau will muss ich den Lenkwinkel flacher machen. Dabei vorausgesetzt natürlich, dass auch auf die Gesamtlänge geachtet wird was erzwingt, dass die Länge, die am Vorbau abgezogen oder dazu gefügt wird, an Reach/Oberrohrlänge entsprechend korrigiert wird.
Besonders wichtig wird das hinsichtlich des Toe-Overlap bei kleinen Fahrern, was explizit auch mein Grund war, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich glaube das Thema Toe-Overlap wurde auch bereits auf Seite 1 erwähnt. Wenn man als kleiner Fahrer keinen Toe-Overlap möchte funktionieren die klassischen "Crosser" Geometrien eben nur noch bedingt oder gar nicht mehr. Das erzwingt, andere Wege zu gehen, in denen der Lenkwinkel eine wichtige Rolle spielt. Wenn das Vorderrad weiter von der Kurbel weg soll hat man im Wesentlichen zwei Möglichkeiten und ein paar mehr Zwänge: entweder man macht den Lenkwinkel flacher. Oder man macht den Reach größer. Oder beides. Die Gesamtlänge Reach+Vorbaulänge muss dabei aber noch im Komfortbereich des Fahrers bleiben. Da wie oben erwähnt alle Einzelkomponenten einen Zusammenhang ergeben, kann man nun eben nicht nur eins verändern und alles andere gleich lassen. Hier bin ich zu dem Schluss gekommen, größerer Reach erfordert geringere Vorbaulänge um die Gesamtlänge gleich zu lassen. Geringere Vorbaulänge bedingt flacheren Lenkwinkel um das Lenkverhalten nicht zu versauen. Allerdings führt ein flacherer Lenkwinkel auch wieder zu mehr Abkippen der der Lenkung/des Vorderrads und damit zu der Notwendigkeit eines breiteren Lenkers um mittels eines größeren Hebels mit weniger Kraftaufwand dem entgegenwirken zu können.
Limitiert wird das alles bei Gravelbikes imo primär durch den Lenker, speziell die Lenkerbreite. Die aktuell gängigen Lenker sind imo vielfach zu kurz für wirklich progressive Geometrien und beschränken somit auch den sinnvoll realisierbaren Lenkwinkel. Auch hier gilt eben: es ergibt alles eine Einheit und einen Zusammenhang.
Mein Monstergravel-Projekt wird so wie es derzeit geplant ist bei einem Lenkwinkel von etwas mehr als 67° rauskommen, mit 40mm Vorbau und Lenkerbreite von 62cm an den Drops rauskommen, das alles unter Berücksichtigung der Gesamtlänge, die ungefähr gleich bleiben soll wie an meinem Oldschool-"Crossergeo"-Gravelbike. Ob meine Überlegungen aufgehen und ein stimmiges Fahrverhalten dabei rauskommt werde ich sehen wenn's fertig ist, ich bin jedenfalls gespannt