Jahrzehntelang hatte der Tiger in dunklen Verschlägen und Kellern gehaust. Obwohl gut eingeölt, kroch ihm die Feuchtigkeit ins schwarz-nickelgelbe Fell und hinterließ Schründe und offene Stellen. Aber heute war sein großer Tag gekommen. Tiger, siehst du dieses Licht? Ja, Roy, es ist die rheinhessische Morgensonne. Führe mich in dieses Licht und erleuchte mich! Kein Thema, Tiger, versprochen ist versprochen. Aber nenn mich bitte nicht Roy! So sprach ich, die servile Großkatze in die Schranken weisend. Eigentlich hasse ich Katzen, aber beim Tiger kam ich nicht umhin, von meinen ehernen Grundsätzen abzuweichen.
Wie ich auf den Tiger kam...
Im vergangenen Sommer trug es sich zu, dass ich mit meinem recht betagten Kombi den Wertstoffhof ansteuerte, um Bauschutt und Holzreste zu entsorgen. Gerade versuchte ich, eine zerborstene Europalette aus dem Fond zu praktizieren, ohne dabei den Wollhimmel in Fetzen zu reißen. Als ich mich samt Palette herumdrehte, um sie dem Holzmüll zuzuführen, traf mich fast der Schlag! Zwei Meter vor mir lehnte ein uraltes Rennrad am Altmetallcontainer, in zurückhaltendes Schwarz gehüllt, das etwa 90 Zähne messende Kettenblatt nickelstrahlend, der Zustand insgesamt patiniert und wunderbar. Ich war wie elektrisiert, bekam mich aber dank eiserner Willenskraft sofort in den Griff. Scheinbar unbeteiligt schlenderte ich gen Holzbehältnis, dabei die kommenden Schritte blitzschnell überdenkend: Welcher Idiot schmeißt sowas weg/Egal, dein Glück/Holz weg und dann zum Platzwart, fragen, ob ich das olle Rad mitnehmen kann/Nur nix anmerken lassen, von Ersatzteilträger quasseln/Der wird Geld haben wollen/Wieviel Kohle hab ich noch einstecken/Bleib ruhig, Junge, wenn er merkt wie heiß du bist, wirds teuer/Pokerface/Pokerface/Heute ist dein Glückstag/Kanns gar nicht glauben, da ist doch was faul... So ungefähr gings in meinem Arbeitsspeicher ab, sämtliche Vorgänge waren zugunsten des Raderhaltungstriebs abgebrochen worden.
Als ich mich auf dem Rückweg mäßig interessiert gebend (die Kraftanstrengung führte fast zu einem Willensfaserriss) dem Rad zuwandte, stand ein blasser junger Mann oder älterer Junge daneben, 1,90 groß und schlaksig und vom Typ her Muttis Bester und Einziger, der seinen ersten GV noch vor sich hatte (wenn es jemals dazu kommen wird, ich hege da Zweifel), der mich musterte. Kurzum: Fabian war Eigentümer dieses 1910er Adler-Rennrades und 9 weiterer Räder und von meinem Wagen ähnlich angetan wie ich von seinem Rad. Als wir uns Wochen später trafen, erzählte er en passant von einem Rad, dessen Rahmen ihm leider zu klein sei und von dem er sich zu trennen gedachte. Es handele sich um ein Tiger, gebaut wohl 1926 in den Köln Lindenthaler Metallwerken (meiner Heimat!), und um 60 Euro wohlfeil, erklärte Fabian. Ich schlug ein!
Katzen würden Castrol kaufen
Der Zustand des Rades erwies sich als hervorragend. Offenbar hatte der letzte (Erst-?)Eigentümer es nach der letzten Fahrt sorgsam geölt und gefettet abgestellt, wie sich nach dem Dampfstrahlen zeigte. Die Laufräder waren gerade, keine einzige Speiche durchgegammelt, der Rahmen innen knochentrocken und rostfrei und Lack sowie Nickel noch in größeren Partien vorhanden. Das Sattelgestell war gebrochen wie auch das Bremsgestänge, die Torpedonabe rubbelte, ging aber frei, und das Glocken(innen)lager lief butterzart.
Also ölte ich das Rad nach dem Abdampfen wieder sorgsam ein, unser Dorfschmied gegenüber schweißte mir den Sattel und Fabian half mir beim Überholen der Torpedo, die wir ebenso wie das Glockenlager neu lagerten und frisch mit Shell Retinax geschmiert wieder zusammensetzten. Das Aufziehen neuer Wulstreifen war reine Formsache, die neue Wippermann-Kette mit Halbzoll-Teilung mit 50 Euro indes recht teuer. Aber hey ein Tiger ist keine Hauskatze.
Der Versuch einer Probefahrt erhärtete dann leider den Verdacht, dass Retinax etwas zu zäh ist. Jedenfalls klebten die Sperrklinken des Freilaufs, wollten sich partout nicht verkeilen und weigerten sich, Durchtrieb herzustellen. Doch dieses Problemchen würde ich morgen früh ganz pragmatisch lösen. Das war gestern Abend.
Pack dir den Tiger untern Ar$ch
Kinder betet, der Vatta lötet. Dies tat er nach einem hektisch eingenommenen Frühstück, denn dann rückte ich der Nabe mit der Lötlampe zu Leibe behufs wärmebedingter Viskositätsänderung des Retinax-Fettes. So geschah es, und kurz darauf rollten der Tiger und ich in den kalten, sonnigen Morgen...
Was soll ich sagen? Es war ein Zustand des Gleitens, sonst nur hervorzurufen durch den Konsum einschlägiger Kräuter bei penibel eingestellter Schaltung nichts rasselte und klapperte, keine Schalt- und sonstigen Röllchen sirrten, keine Hebel klickten, und keine Knobbis rubbelten. Es war nichts zu hören außer dem zarten Singen der dürren Wulstreifen auf dem Asphalt und dem Rauschen des perfiden Gegenwinds im Ohr. Das waren sie, die viel zitierten Samtpfoten! Wie geil ist denn das bitteschön, Tiger? Endgeil, Roy, endgeil! Nenn mich nicht Roy, verdammt!
Justament in diesem Augenblick fiel die Straße um etwa vier bis fünf Prozent in eine Senke ab, und es dämmerte mir, dass sich der Tiger der Verzögerung an sich verweigert zumindest, wenn man sonst den geschmeidigen Biss einer HS 33 gewöhnt ist. Im Rücktritt stehend, schossen wir den Hang hinab, glücklicherweise nicht von Traktoren oder ähnlichem behindert. Anfangs ist die Verzögerung noch etwas schwächer, bis sich die Bremse eingelaufen hat, kam mir Fabians euphemistische Formulierung wieder in den Kopf.
Kurz darauf strandeten wir im Gegenhang, den ich im Wiegetritt heraufzudrücken gedachte. Hierbei erwies sich der Lenker indes als hinderlich, dessen Enden immer wieder mit meinen Kniescheiben kollidierten, die wiederum ungewollte Lenkbefehle induzierten, was wiederum ebenso spontane wie unkontrollierte Kursänderungen hervorrief. Die wenigen Passanten schauten mitleidig und hielten mich wohl für einen jener Radfahrer, die in der Regel früh morgens mit verquollenem Gesicht Tankstellen anzusteuern und dort ein Päckchen Reval ohne und zwei Fläschken Küstennebel zu ordern pflegen. Mir wars einerlei, der Berg war bezwungen! Die folgenden zehn km entlohnten mich mit nahezu schwerelosem Gleiten...
Einer geht noch
Meine letzte Fahrt auf einem Singlespeed war jene, als ich mit einem eingesprungenen Doppel-Axel meinen Kommunionsanzug ruinierte, und das ist jetzt mehr als ein Vierteljahrhundert her. Seither vertraute ich auf die Kraft der multiplen Übersetzungen, wenn sich ein Berg vor mir auftürmte. Vor meiner Tour schwante mir daher Übles. Umso verblüffter war ich, wie kommod sich mit dem Eingänger fahren lässt und wie zornig der greise Tiger die km in sich hineinfraß. Gerademal ein dreiviertel Stündchen verging, bis die knapp 15 km hinter mir lagen; mit dem Bergrad sinds sonst um die 30 Minuten. Und so werde ich diesen grauen Panther des Individualverkehrs in Zukunft sicher häufiger für Touren heranziehen, dressiert ist er ja jetzt. Gell, Samtpfötchen? Nenn mich nicht Samtpfötchen, Idiot! Ach komm, kannst auch Roy zu mir sagen...
Steinhummer
Wie ich auf den Tiger kam...
Im vergangenen Sommer trug es sich zu, dass ich mit meinem recht betagten Kombi den Wertstoffhof ansteuerte, um Bauschutt und Holzreste zu entsorgen. Gerade versuchte ich, eine zerborstene Europalette aus dem Fond zu praktizieren, ohne dabei den Wollhimmel in Fetzen zu reißen. Als ich mich samt Palette herumdrehte, um sie dem Holzmüll zuzuführen, traf mich fast der Schlag! Zwei Meter vor mir lehnte ein uraltes Rennrad am Altmetallcontainer, in zurückhaltendes Schwarz gehüllt, das etwa 90 Zähne messende Kettenblatt nickelstrahlend, der Zustand insgesamt patiniert und wunderbar. Ich war wie elektrisiert, bekam mich aber dank eiserner Willenskraft sofort in den Griff. Scheinbar unbeteiligt schlenderte ich gen Holzbehältnis, dabei die kommenden Schritte blitzschnell überdenkend: Welcher Idiot schmeißt sowas weg/Egal, dein Glück/Holz weg und dann zum Platzwart, fragen, ob ich das olle Rad mitnehmen kann/Nur nix anmerken lassen, von Ersatzteilträger quasseln/Der wird Geld haben wollen/Wieviel Kohle hab ich noch einstecken/Bleib ruhig, Junge, wenn er merkt wie heiß du bist, wirds teuer/Pokerface/Pokerface/Heute ist dein Glückstag/Kanns gar nicht glauben, da ist doch was faul... So ungefähr gings in meinem Arbeitsspeicher ab, sämtliche Vorgänge waren zugunsten des Raderhaltungstriebs abgebrochen worden.
Als ich mich auf dem Rückweg mäßig interessiert gebend (die Kraftanstrengung führte fast zu einem Willensfaserriss) dem Rad zuwandte, stand ein blasser junger Mann oder älterer Junge daneben, 1,90 groß und schlaksig und vom Typ her Muttis Bester und Einziger, der seinen ersten GV noch vor sich hatte (wenn es jemals dazu kommen wird, ich hege da Zweifel), der mich musterte. Kurzum: Fabian war Eigentümer dieses 1910er Adler-Rennrades und 9 weiterer Räder und von meinem Wagen ähnlich angetan wie ich von seinem Rad. Als wir uns Wochen später trafen, erzählte er en passant von einem Rad, dessen Rahmen ihm leider zu klein sei und von dem er sich zu trennen gedachte. Es handele sich um ein Tiger, gebaut wohl 1926 in den Köln Lindenthaler Metallwerken (meiner Heimat!), und um 60 Euro wohlfeil, erklärte Fabian. Ich schlug ein!
Katzen würden Castrol kaufen
Der Zustand des Rades erwies sich als hervorragend. Offenbar hatte der letzte (Erst-?)Eigentümer es nach der letzten Fahrt sorgsam geölt und gefettet abgestellt, wie sich nach dem Dampfstrahlen zeigte. Die Laufräder waren gerade, keine einzige Speiche durchgegammelt, der Rahmen innen knochentrocken und rostfrei und Lack sowie Nickel noch in größeren Partien vorhanden. Das Sattelgestell war gebrochen wie auch das Bremsgestänge, die Torpedonabe rubbelte, ging aber frei, und das Glocken(innen)lager lief butterzart.
Also ölte ich das Rad nach dem Abdampfen wieder sorgsam ein, unser Dorfschmied gegenüber schweißte mir den Sattel und Fabian half mir beim Überholen der Torpedo, die wir ebenso wie das Glockenlager neu lagerten und frisch mit Shell Retinax geschmiert wieder zusammensetzten. Das Aufziehen neuer Wulstreifen war reine Formsache, die neue Wippermann-Kette mit Halbzoll-Teilung mit 50 Euro indes recht teuer. Aber hey ein Tiger ist keine Hauskatze.
Der Versuch einer Probefahrt erhärtete dann leider den Verdacht, dass Retinax etwas zu zäh ist. Jedenfalls klebten die Sperrklinken des Freilaufs, wollten sich partout nicht verkeilen und weigerten sich, Durchtrieb herzustellen. Doch dieses Problemchen würde ich morgen früh ganz pragmatisch lösen. Das war gestern Abend.
Pack dir den Tiger untern Ar$ch
Kinder betet, der Vatta lötet. Dies tat er nach einem hektisch eingenommenen Frühstück, denn dann rückte ich der Nabe mit der Lötlampe zu Leibe behufs wärmebedingter Viskositätsänderung des Retinax-Fettes. So geschah es, und kurz darauf rollten der Tiger und ich in den kalten, sonnigen Morgen...
Was soll ich sagen? Es war ein Zustand des Gleitens, sonst nur hervorzurufen durch den Konsum einschlägiger Kräuter bei penibel eingestellter Schaltung nichts rasselte und klapperte, keine Schalt- und sonstigen Röllchen sirrten, keine Hebel klickten, und keine Knobbis rubbelten. Es war nichts zu hören außer dem zarten Singen der dürren Wulstreifen auf dem Asphalt und dem Rauschen des perfiden Gegenwinds im Ohr. Das waren sie, die viel zitierten Samtpfoten! Wie geil ist denn das bitteschön, Tiger? Endgeil, Roy, endgeil! Nenn mich nicht Roy, verdammt!
Justament in diesem Augenblick fiel die Straße um etwa vier bis fünf Prozent in eine Senke ab, und es dämmerte mir, dass sich der Tiger der Verzögerung an sich verweigert zumindest, wenn man sonst den geschmeidigen Biss einer HS 33 gewöhnt ist. Im Rücktritt stehend, schossen wir den Hang hinab, glücklicherweise nicht von Traktoren oder ähnlichem behindert. Anfangs ist die Verzögerung noch etwas schwächer, bis sich die Bremse eingelaufen hat, kam mir Fabians euphemistische Formulierung wieder in den Kopf.
Kurz darauf strandeten wir im Gegenhang, den ich im Wiegetritt heraufzudrücken gedachte. Hierbei erwies sich der Lenker indes als hinderlich, dessen Enden immer wieder mit meinen Kniescheiben kollidierten, die wiederum ungewollte Lenkbefehle induzierten, was wiederum ebenso spontane wie unkontrollierte Kursänderungen hervorrief. Die wenigen Passanten schauten mitleidig und hielten mich wohl für einen jener Radfahrer, die in der Regel früh morgens mit verquollenem Gesicht Tankstellen anzusteuern und dort ein Päckchen Reval ohne und zwei Fläschken Küstennebel zu ordern pflegen. Mir wars einerlei, der Berg war bezwungen! Die folgenden zehn km entlohnten mich mit nahezu schwerelosem Gleiten...
Einer geht noch
Meine letzte Fahrt auf einem Singlespeed war jene, als ich mit einem eingesprungenen Doppel-Axel meinen Kommunionsanzug ruinierte, und das ist jetzt mehr als ein Vierteljahrhundert her. Seither vertraute ich auf die Kraft der multiplen Übersetzungen, wenn sich ein Berg vor mir auftürmte. Vor meiner Tour schwante mir daher Übles. Umso verblüffter war ich, wie kommod sich mit dem Eingänger fahren lässt und wie zornig der greise Tiger die km in sich hineinfraß. Gerademal ein dreiviertel Stündchen verging, bis die knapp 15 km hinter mir lagen; mit dem Bergrad sinds sonst um die 30 Minuten. Und so werde ich diesen grauen Panther des Individualverkehrs in Zukunft sicher häufiger für Touren heranziehen, dressiert ist er ja jetzt. Gell, Samtpfötchen? Nenn mich nicht Samtpfötchen, Idiot! Ach komm, kannst auch Roy zu mir sagen...
Steinhummer