Tag 5
Rifugio la Baita - Pezzo
28km, 1.050hm
„Wat wellste maache?“
Das harmlose Programm für heute. Oder doch nicht?
Dieser Tag ist so anders. Aber nicht so wie wir dachten. Am morgen hängt uns noch ein wenig der Vortag in den Knochen. Wir haben extra 20km dran gehängt, um die heutige Etappe zu einer Art Ruhetag werden zu lassen. Etwas mehr als 25km, 1.000hm. Das klingt nach entspannten 3 Stunden kurbeln am Vormittag und einem relaxten Nachmittag, um unsere Batterien aufzuladen.
Tja, es gab aber da noch jemanden, der was dagegen hatte. Das Wetter. Die kürzeste Etappe sollte gleichzeitig eine der härtesten werden. Charakterschulung par excellence!
Das Wetter meint es nicht gut.
Aber der Reihe nach. Der morgen begann mit einem hervorragenden Frühstück aber einem bangen Blick nach draussen. Alessandro gab uns keine Hoffnung - es wird den Tag über schlecht bleiben. Die dicken Regentropfen verwandelten das Vale Rezzalasco in einen unwirtlichen Ort. So schön muss es hier oben auf 2.000m sein, wenn die Sonne scheint. Aber heute?
Die ersten KM sind direkt hart. 15-20% Steigung fordern Schiebekünste. Man beachte die schönen Gamschen aus Plastiktüten.
Willi und Ingo sind auch unterwegs... Das Wetter sieht auf dem Foto gar nicht so schlimm aus.
Gut, wir basteln uns aus Plastiktüten improvisierte Gamaschen und fahren los. Die Kamera bleibt im Rucksack, keinen Bock auf Fotos - ich bin ein bisschen genervt. Schon nach zwei KM beginnt eine der härteren Passagen. 15-20% Steigung zwingen uns zum Schieben. Lucas und ich sind wieder etwas voraus. Und irgendwann wird es mit 10% etwas flacher und ich fahre. Und fahre. Und fahre.
Ich mag meinen alten Defender und den neuen nicht. Aber was würde ich dafür geben, jetzt da einzusteigen und ein paar km im Trockenen zu fahren.
Es regnet und ich bin mit dem felsigen Untergrund, technisch nicht wenig anspruchsvoll bei diesem Wetter, und meinen Gedanken allein. In den letzten Tagen haben wir immer wieder die Szene mit Baby Schimmerlos und Haffenloher aus Kir Royal rezitiert und uns dabei köstlich amüsiert. Jetzt auf dem Weg überlege ich mir, wie man das auf diesen blöden Passo dell’Alpe ummünzen könnte.
Achtung, albern ;-) Wer das original nicht kennt: Original auf Youtube
Oben angekommen gibts dann erstmal etwas Stärkung während ich warte und meine Variation von „Ich scheiß dich zu mit meinem Geld“ zum Besten gebe. Danach kauere ich mich hinter einen Vorsprung und warte auf Lucas.
Ich kauere hinter einem Felsvorsprung, um Schutz vor dem nasskalten Wind zu finden...
Wenig später trifft er ein und wir fahren das kurze Stück bergab bis zur Gavia Passstrasse. Der Gavia! Was für ein mythischer Pass des Giro d’Italia. Auch wir müssen ihn hoch, weil es keine Trails darüber gibt. Es regnet mittlerweile in Strömen. An einem kleinen Trafohäuschen suchen wir unter einem Dachvorsprung Schutz und warten auf Willi und Ingo.
Die Hoffnung, dass das Wetter besser wird, verfliegt schnell. Ingo will weiter - völlig verständlich - wir werden kälter und kälter. Also nehmen wir die ca. 6km zum Gipfel in Angriff. Ingo prescht voran, dann folgen Lucas und ich. Willi fährt am Ende. Auf dem Weg zum Gipfel fängt es an zu Gewittern. Ich zähle mit. 1, 2, 3, 4… Ganz so schlimm wie am zweiten Tag an der Heidelberger Hütte ist es nicht. Aber hier oben sind wir schon ziemlich exponiert und wir sind bergauf langsam - es wird sicherlich 45 Minuten dauern, bis wir oben sind. Nach einem KM einigen Lucas und ich uns darauf, dass wir uns versuchen irgendwo unterzustellen.
Da! Rechts ein Schafskäseverkauf. Wir biegen ein und kommen zu einer runtergeranzten Hütte. Aber sie hat ein Vordach. Ein Lamborghini Traktor, der seine Besten Tage lange hinter sich hat, steht im Regen davor. Durch die Fenster sieht man Unordnung - es riecht streng nach Schaf. Logo. Irgendwann erscheinen zwei Jüngelchen von ca. 13 Jahren in der Tür. Mit meinem gebrochenen Italienisch versuche ich es „Possiamo entrare per favore?“.
Die beiden gucken sich an, grinsen und sagen „no.“
Dafür glotzen sie uns an wie zwei Irre, die irgendwo ausgebrochen sind. Ja, tut uns leid, wir frieren, fahren mit alten Rädern über die Alpen und brauchen Hilfe. Aber das interessiert die beiden null Komma null. Ich halte mich an dieser Stelle mit Beleidigungen zurück, aber was ihr könnt euch sicherlich vorstellen, was mir durch den Kopf ging.
Ein Foto sagt mehr als 1000 Worte...
Die Zeit verging, es wurde nicht besser. Langsam waren unsere Füße nass. Lucas baute sichtlich Minute für Minute ab. Ich sagte Lucas, wir müssen weiter. Widerwillig schoben wir nach 20 Minuten unsere Räder wieder in den Regen und fuhren weiter.
Willi hatte uns in der Zwischenzeit passiert - keine Chance ihn von abseits der Straße bei dem Regen und Gewitter zu rufen. Also ging es los. 4-5 km noch bis zum Gipfel. Lucas wurde langsamer und sagte er könne nicht mehr. Ich versuchte ihn aufzumuntern und zu motivieren - es ist nicht mehr weit! Aber die letzten Tage ohne kleines Kettenblatt forderten nun ihren vollen Tribut. Inklusive Zinsen.
Irgendwie schafften wir es zum Rifugio ca. 2km vor dem Gipfel. Dort stellten wir unsere Räder ab und ich bugsierte Lucas in den Vorraum der Herberge. Während ich drinnen die Lage sondierte, stand Lucas benommen herum. JA! Kaffee, Tee, Essen. Hier sind wir richtig. Triefend stellte ich unsere Rucksäcke ab und half Lucas beim Ausziehen der nassen Klamotten. Er zitterte am ganzen Leib. Tee! Und eine Minestrone! Schnell! Aber selbst das wärmende Essen und meine trockene Daunenweste und Merinomütze für Abends, die ich ihm gab, halfen wenig.
Tee, Cola, Minestrone - die Versuche Lucas wieder auf die Spur zu bekommen.
Im Rifugio hingen Zeitungsausschnitte von Radrennfahrerlegenden vergangener Zeiten, die sich in Schneegestöber den Pass hinaufquälten. IRRE! So schlimm sind wir nicht dran, aber Lucas sagte er könne nicht weiter. Das wars.
Die Helden von damals lächeln nur müde über unsere Probleme.
Willi hatte oben am Gavia, so erfuhren wir später, einen heißen Kakao getrunken und dann entspannt nach Pezzo abgefahren. Ingo war schon lange in Pezzo, als wir noch im Rifugio 2km vor dem Gipfel hockten. Die beiden fingen natürlich auch an sich Sorgen zu machen. Immerhin gab es kein Netz.
Zurück im Rifugio: Ich fragte nach einem Bus, aber der Kellner meinte nur, dass dieser nicht nach Pezzo fährt sondern nur am Gavia wendet. Das war also keine Option. Ich weiss nicht mehr genau wie und warum, aber irgendwann war Lucas doch noch im Stande weiterzufahren.
Wir fuhren langsam los, Lucas dick eingepackt. Respekt, dass er es noch mal in den
Sattel geschafft hatte. Die letzten 500m zum Gipfel wurde es etwas flacher und ich schob Lucas das letzte Stück über den Gipfel. Oben angekommen fing er an zu weinen (natürlich sah man das nicht wirklich, aber er sagte es uns später - passt natürlich gut zur Dramaturgie
). Wir hatten es geschafft. Von hier ging es „nur“ noch runter nach Pezzo. Natürlich ließen wir den Trail links liegen und fuhren auf Asphalt hinunter.
Das war sicherlich noch einmal eine heikle Situation. Lucas war völlig am Ende und wir mussten einen ungesicherten Pass hinunterfahren. Ich war froh, dass mein Rucksack neongelb leuchtete und fuhr mit 5 Metern Abstand Lucas voraus, damit er sich daran orientieren konnte. Ich habe eine Abfahrt noch nie so gehasst. Rennrad. 20 Grad. Ein Traum. Heute ein Albtraum!
Tja, es war vielleicht ein bisschen leichtsinnig, aber wir kamen dann doch gegen 16 Uhr in Pezzo an. Die Szene wiederholte sich. Lucas stand im Eingang von Da Guisy (der einzigen Unterkunft in Pezzo) und bewegte sich kein bisschen. Ich brachte die Räder in die Garage und brachte ihn dann zu unserer 4er Wohnung. Über verwinkelte Treppen erreichten wir die erste Etage. Kurzes „Hallo“, dann erklärte ich Ingo und Willi kurzerhand die Lage. Lucas ließ alles mit sich machen. In einer konzertierten Aktion zogen wir Lucas alles vom Leib, schoben ihn unter die heiße Dusche, trieben Tee auf und steckten ihn anschließend ins Bett.
Lucas schlief fast auf der Stelle ein.
Glückliche Fügung. Die Waschmaschine in unserer Wohnung bekam direkt mal einiges zu tun.
Was nun? Beim Essen, das Lucas auch ausfallen liess (wir konnten ihn immerhin dazu überreden etwas Brot zu essen), erörterten wir die Lage. Für den nächsten Tag war auf der gesamten Strecke, die über die berüchtigte Montozzo-Scharte ging, Gewitter angesagt. Den ganzen verdammten Tag. Auch die Ausweichrute über den Tonale Pass sah nicht besser aus. Mal davon abgesehen, dass wir keine besondere Lust hatten nochmal 60km im Regen zu fahren machte uns Lucas Zustand sorgen. Wir könnten ihn bei so einem Wetter noch nicht mal bis runter nach Ponte Legno aufs Rad setzen, um dort einen Bus zum Tonnale Pass zu nehmen. Was also tun?
Wettervorhersage für den Zielort. Yummie.
Wettervorhersage für den Startort. Yummie.
Wettervorhersage für die Montozzo-Scharte. Yummie.
Wettervorhersage für das Tal/die Alternativstrecke. Yummie.
Wir fassten den traurigen aber sicherlich richtigen Entschluss die morgige Etappe ausfallen zu lassen. Mit Hilfe unserer Wirtin organisierten wir für morgen einen Kleintransporter, der uns von PEzzo nach Madonna di Campiglio bringen würde.
Zurück auf dem Zimmer war Lucas kurz nochmal wach, meldete zu Hause, dass er noch lebte und schlief dann wieder ein, so wie wir alle mit dem beruhigenden Gefühl, morgen alles richtig zu machen, auch.