Interessanter Vortrag zur Fahrradergonomie

DerBergschreck

...fährt ohne Betäubung
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Ort
Ostwestfalen
Ich war vor ein paar Tagen bei einem Vortrag über Fahrradergonomie und doch angenehm überrascht über ein paar neue Erkenntnisse. Die Referentin heisst Juliane Neuss und das Ganze war eine Veranstaltung vom ADFC - also dachte ich, dass das wohl etwas angestaubtes für ältere Radeltouristen mit Tourenlenkern auf maximale Höhe ausgezogen wird. Doch weit gefehlt: die Referentin empfiehlt eine nach vorne geneigte, eher sportliche Sitzposition und die meisten von ihr beratenen Radfahrer/innen bekommen einen schmalen und harten Sportsattel verpasst. Also hören wir doch mal weiter zu:

Der ganze Bohei mit Sitzknochenabstand, den z.B. SQlab und Specialized machen, ist bei einer sportlichen, nach vorne geneigten Sitzposition vollkommen sinnlos, weil die Sitzknochen gar keine "tragende Rolle" mehr haben - man sitzt dann hauptsächlich auf dem Schambein. Der Sattel muss also diese Position, in der das Becken nach vorne "gerollt" ist, zulassen und man kann das natürlich auch ausprobieren - was schon mal ein paar Sättel kosten kann. Hilfreich kann dabei eine Satteldruckmessung bei einem Händler mit z.B. mit diesem System sein: http://gebiom.de/index.php?comp=0&lang=de&dyn=1&link_gr=druckmessung&link_id=1

Da sieht man sofort beim Draufsetzen, ob man auf dem Sattel eine ausgewogene Druckverteilung hat und hat ratz fatz einen passenden Sattel herausgefunden. Irgendwie logisch, oder?

Spannend fand ich auch folgende Erkenntnis, die die Referentin in über 2.000 Ergonomieberatungen herausgefunden hat. Eine Grundannahme ist ja, dass man durch die Veränderung der Lenkerhöhe den Sitzwinkel (also wie stark man nach vorne geneigt sitzt) in weiten Grenzen beeinflussen kann. Also: Lenker höher -> aufrechter sitzen. Viele Menschen scheinen aber - evtl. durch die Form des Beckens - eine bestimmten Sitzwinkel quasi "einprogrammiert" zu haben. Entweder sie sitzen exakt senkrecht (wie auf dem Hollandrad) oder eben sportlich nach vorne geneigt, aber in "ihrem" spezifischen Winkel - dazwischen geht nichts.

Schockierende Erkenntnis für Tourenradler, die gerne aufgrund von Rückenproblemen möglichst aufrecht sitzen möchten: der Lenker muss tiefer! Wie? Was? Warum das? Ein paar Vergleichsfotos sprechen Bände. Auf dem ersten ein Radfahrer mit hohem Lenker und extrem hochgezogenen Schultern - natürlich hat er Rückenprobleme und will den Lenker noch höher haben. Frau Neuss stellt seinen Lenker drastisch tiefer ein - Ergebnis: er sitzt immer noch in "seinem" Winkel, kann jetzt aber die Schultern fallen lassen und weg sind die Rückenprobleme.

Was auch auffiel: sitzt man ergonomisch korrekt und somit beschwerdefrei, beträgt der Winkel zwischen Oberkörper und Armen ziemlich genau 90º. Man kann sich ja mal selbst fotografieren (lassen), dann weiss man, in welche Richtung man optimieren muss.

Mir selbst hat die Überprüfung meines Rads folgende Erkenntnisse gebracht: Der Sattel kann noch etwas höher und die Sattelnase kann etwa 1 cm abgesenkt werden. Dadurch kann ich das Becken besser nach vorne rollen und fahre jetzt mit geradem Lendenwirbelbereich wesentlich angenehmer.:)
 
Ich find das klingt absolut nachvollziehbar ... bei 90° zwischen Oberkörper und Arme (von der Seite betrachtet) benötigt man am wenigsten Kraft um sich abzustützen. Insbesondere für den, der mit geradem Rücken unterwegs ist, ist der Sattel entscheidend - der muss das nach-vorn-Kippen zulassen... kann ich nur bestätigen.

Haben sie auch etwas über den Kniewinkel erzählt? ... da liest man oft, dass dieser die 90° nicht unterschreiten soll. Ist aber eigentlich totaler Käse...
 
Ich find das klingt absolut nachvollziehbar ... bei 90° zwischen Oberkörper und Arme (von der Seite betrachtet) benötigt man am wenigsten Kraft um sich abzustützen. Insbesondere für den, der mit geradem Rücken unterwegs ist, ist der Sattel entscheidend - der muss das nach-vorn-Kippen zulassen... kann ich nur bestätigen.

Haben sie auch etwas über den Kniewinkel erzählt? ... da liest man oft, dass dieser die 90° nicht unterschreiten soll. Ist aber eigentlich totaler Käse...

Nee, eigentlich nicht. Wenn man den Sattel deutlich zu tief hat, ist der Kniewinkel erheblich kleiner als 90º und das geht dann extrem auf die Kniescheiben. Dass man bei Kniebeugen nicht unter 90º gehen soll, wird einem auch jeder Physiotrainer deutlich ans Herz legen.
 
Dass man bei Kniebeugen nicht unter 90º gehen soll, wird einem auch jeder Physiotrainer deutlich ans Herz legen.

Das muss ich korrigieren. Man soll auf keinen Fall bei Kniebeugen den Wendepunkt der Bewegung unter einem Winkel von 90° vollführen. Ob drunter oder drüber ist egal (Oberschenkel parallel zum Boden ist für viele eine ausreichende Tiefe, ohne dass das Becken kippt), aber nicht bei 90°. Dann nämlich ist die Belastung auf das Knie am allerhöchsten.
 
Danke für die prima Zusammenfassung! Interessante Neuigkeiten! Ein paar davon habe ich bereits intuitiv richtig gemacht und werde mich nun den restlichen Tipps widmen. :daumen:


P.S.: Wer kann sich noch alles an seinen Sportunterricht erinnern, bei dem man in einer gesetzten Zeit eine bestimmte Anzahl Kniebeuge (aufrecht-hinhocken-aufrecht-hinhocken) machen musste, die über die Note entschied? Mir haben meine schmerzenden Knie schon damals gesagt, dass da was nicht stimmen kann....
An der Stelle ein herzliches Dankeschön meinem Soortlehrer, der es als relativ frisch von der Uni und als aktiver Sportler eigentlich hätte besser wissen müssen..... :rolleyes:
 
Meine Sitzpositionen z. B. auf dem Reiserad und dem AM-Hardtail unterschieden sich nur unwesentlich. Der Lenker am AM-Hardtail ist etwas breiter und niedriger.

Beim Reiserad kann ich mich draufsetzen, 10 Stunden durchfahren, absteigen und ich hab keinerlei Beschwerden (Ok, einen Mörder-Muskelkater am nächsten Tag... :))
 
Nee, eigentlich nicht. Wenn man den Sattel deutlich zu tief hat, ist der Kniewinkel erheblich kleiner als 90º und das geht dann extrem auf die Kniescheiben. Dass man bei Kniebeugen nicht unter 90º gehen soll, wird einem auch jeder Physiotrainer deutlich ans Herz legen.

Das stimmt schon. Aber sofern der Sattel nicht zu tief ist müsste ich z.B. den Sattel extrem weit nach hinten schieben, damit ich die 90° nicht unterschreite. Aber das macht keinen Sinn, weil dann die Kraftübertragung überhaupt nicht mehr hinhaut. Winkel <90° sind im Prinzip kein Problem solange das Bein eine angemessene Streckphase hat und die Trittfrequenz nicht dauerhaft sehr niedrig ist. Die Belastung für die Kniescheibe ist bei spitzen Winkeln natürlich größer, aber nicht in jedem Fall kritisch. Zudem der Muskel in dieser Phase nicht so stark aktiv ist...
 
Das stimmt schon. Aber sofern der Sattel nicht zu tief ist müsste ich z.B. den Sattel extrem weit nach hinten schieben, damit ich die 90° nicht unterschreite. Aber das macht keinen Sinn, weil dann die Kraftübertragung überhaupt nicht mehr hinhaut.

Unter 90º ist die Kraftübertragung sowieso schlecht. Kennt doch jeder, wenn er mal für ne steile Abfahrt den Sattel tiefer gestellt hat und es kommt zwischendurch ein kurzer Gegenanstieg - das tritt sich total uneffektiv.
 
bei mir sind die Unterschiede bei allen Bikes auch eher klein. So "mittelaufrecht" wie ich das anfänglich mal am Trekker hatte, gab gar nix. Interessanterweise (oder eben nicht mehr) bei meiner Frau auch nicht. Insofern kann ich das so auch bestätigen. Bei den Sätteln das Gleiche. Entweder er passt oder nicht und das hat nicht unbedingt so viel mit der Breite zu tun. Dazwischen gibt es bei mir eigentich nichts.
Übrigens, wir beide sitzen praktisch täglich auf dem Rad.
 
Praktisch wenn man nen Allerweltshintern hat der auf (fast) den (Werks)Sattel passt.

Ob ich richtig sitze? Kein Plan ich fühl mich wohl, ich fahr aber auch sehr kompakte Bikes für meine Größe.
Mit 172cm Körperlänge und ner SL von 83cm fahr ich S Bikes. Mein Cube AMS 100 war schon ein 16" und mein Headline ist ein 16,5".

Gerade wenns technich wird machts mit den kurzen Bikes deutlich mehr Spaß. Evtl. hätte ich bei M mehr vorteile wenn ich mal nen Marathon fahre, aber das wars wohl auch schon.

Ich sitzte halt sehr gemütlich auf den kurzen Bikes und Probleme machts mir keine.
 
Der ganze Bohei mit Sitzknochenabstand, den z.B. SQlab und Specialized machen, ist bei einer sportlichen, nach vorne geneigten Sitzposition vollkommen sinnlos, weil die Sitzknochen gar keine "tragende Rolle" mehr haben - man sitzt dann hauptsächlich auf dem Schambein.

Da passiert vielleicht das richtige aus den falschen Gründen, aber auf meinem Schambein möchte ich beim radeln nicht sitzen, niemals!

Ich kenne leider zuviele Leute, die genau mit SQlab oder Specialized Sätteln hervorragend zurechtkommen, und ich weiß, dass ich auf meinen Sitzknochen sitze.
 
und selbst auf meinen Dammbereich möchte ich nicht sitzen, denn genau da laufen doch alle Nerven da unten durch und genau da wenn man Druck draufgibt schläft einen doch alles ein was nicht einschlafen sollte.

Ich komme jedenfalls auch schon immer mit SQLab und Specci Sätteln zurecht.
 
Das ist von Person zu Person aber sehr verschieden. Da gibt es meiner Meinung nach keine pauschale Aussage, oder Sattelmodelle die einfach jedem passen. Den passenden Sattel für jedes Bike und Anwender zu finden, ist irgendwie wie bei Schuhen. Man muss die probieren können. Bei einigen Herstellern gibt es ja mittlerweile auch eine gratis Rücksendungsmöglichkeit und das ist auch gut so.
als Beispiel: ich komme mit keinem Fizik Sattel klar. Die eher schmaleren Terry's ohne Gel passen mir dafür sehr. Bei einem meiner Bikekumpels widerum ist es genau anders herum. Wir haben übrigens die praktisch gleichen Sitzknochenabstände bei ähnlichem Körperbau/Gewicht.
 
Oh ja, Sättel & Sitzposition sind so Themen, über die man noch in 100 Jahren diskutieren wird... :D ;)

Eigentlich müsste man - wenn man es richtig machen will - in ein Sportlabor gehen und sich da vermessen lassen bzw die richtige Sitzposition ausprobieren. Das Dumme daran ist nur, daß diese Vermessungen eigentlich primär für Rennradler gedacht sind... :p

Ich hab ja nun schon auch so einige Sättel durch und auf keinem sitze sich längere Zeit bequem. Was aber auch mit reinspielt: Halswirbelsäule & Nackenbereich. Viele wissen nämlich nicht, daß kribbelnde/einschlafende Füße & Hände auch von eingeklemmten Nerven im Nacken kommen können... ;)

Oder anders gesagt: Es hilft nur ausprobieren, verändern, ausprobieren, verändern, ausprobieren...









...bis man die für sich passende Sitzposition & Sattel gefunden hat... ;)
 
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