Artikel gelesen... naja, wenig Erkenntnisgewinn. Dann auf die Kommentare geschaut. Oha, 300! Da hat der Autor wohl doch alles richtig gemacht.
Die Kommentare hab ich natürlich nicht alle durchgelesen, aber beim Querlesen (Achtung: hat nichts mit Querdenken zu tun!) sind mir mehr interessante Gedanken aufgefallen als im ursprünglichen Artikel.
Damit ich jetzt nicht nur meckere, gibt's noch mein Wechselgeld...
... zum Thema "Bikes werden immer länger":
Ich hab mir vor kurzem ein neues Bike zugelegt. MY2021. Mein altes war MY2016. Also fünf Jahre dazwischen, schon ne Zeit. Der nominale Reach ist identisch (Stack-bereinigt ist's ein paar mm länger), der Radstand ist etwas länger (3 cm, also auch nicht dramatisch), aber die Kettenstreben sind auch mitgewachsen, sodass das Verhältnis Front-Center zu Rear-Center praktisch gleich ist.
Gut, das alte Bike war ein XL, das neue ist ein L. Man muss dazusagen, dass ich in beiden Fällen von der Größenempfehlung her jeweils zwischen L und XL lag. Die Hersteller haben also im Prinzip nichts falsch gemacht. Man könnte sagen, der Autor hat einen Punkt, weil die Industrie quasi ihre Etikettierung verschoben hat. Was heute ein L ist, war früher ein XL. Da ich aber mit 185 cm eigentlich eher ins L-Fach als ins XL-Fach fallen sollte, würde ich behaupten, dass die Bezeichnung heute eher angemessen ist und früher die Bikes eher zu klein waren. Aber dass sie heutzutage alle zu lang werden, kann ich noch nicht sehen (gibt sicher Beispiele, aber die Regel ist das nicht).
... zum Thema "Ideal-Geometrie":
Ich denke schon, dass es sowas gibt. Und zwar unabhängig von Moden und Trends. Sicherlich aber nicht unabhängig von verschiedenen Körperformen/zuständen und auch nicht unabhängig von verschiedenen Einsatzzwecken oder Betätigungsgebieten. Aber ein paar Grundsätze gibt es sicherlich. Das sagt uns ganz einfach die Biomechanik.
Zunächst einmal ist es so, dass die Bein- und Rumpfmuskulatur beim Menschen (und zwar bei wirklich fast allen) deutlich stärker ist als die Armmuskulatur. Das wissen sogar die Kletterer und deshalb wollen die wenn möglich Höhe aus der Beinmuskulatur gewinnen und sich mit den Armen dabei nur festhalten. Beim Mountainbiken will ich also ganz sicher ganz hauptsächlich auf meinen Beinen stehen und nicht auf meinen Armen liegen. In Kurven will ich vielleicht etwas mehr die Arme belasten, aber ganz sicher nicht mehr als 20%. Mir ist schon klar, dass die "85% Körpergewicht auf den Armen" aus dem Artikel eine bewusste Übertreibung sind, aber oft hab ich das Gefühl, dass manche unter "aktiver Fahrweise" etwas mehr als 20% verstehen. Dabei muss ich mir nur mal anschauen, wieviel Gewicht ich beim Bankdrücken schaffe und wieviel bei der Beinpresse. Viel anders will ich das Verhältnis auf dem Mountainbike auch nicht haben.
Weiterhin sagt uns die Biomechanik, dass bei einer Grundposition die Arme und Beine LEICHT gebeugt sein sollten. Das macht uns bewegungsbereit, spart aber Kraft. Klar gehe ich beim Radfahren auch mal tiefer oder bewege mich anderweitig, aber nicht als Grundposition. Ein Enduro-Racer, der topfit ist, fährt über die paar Minuten einer Race-Stage vielleicht eine etwas tiefere Position, aber das ist sicherlich ein Spezialfall. Ein Abfahrtsskiläufer fährt auch keine Hocke, wenn er normal Skifahren geht.
Der RAD-Wert (oder wie man den Abstand von Lenkzentrale und Tretlager nennen will) hat damit schon einen Sinn. Allerdings würde ich den immer messen als Abstand von Füßen und Händen in der spezifischen Grundposition und nicht über eine einfache Formel berechnen (es sei denn, man hat die gleichen Körperproportionen wie derjenige, der die Formel entwickelt hat). Und man sollte den RAD-Wert Rad-seitig natürlich auch im Fahrzustand anwenden und nicht beim unbelasteteten Rad (a.k.a Geometriedatenblatt, am besten noch ohne Berücksichtigung des Cockpits).
Man will also wohl eine Bike-Geometrie, die einem die angesprochene, biomechanisch sinnvolle Grundposition erlaubt und dabei ein ausbalanciertes Rad ergibt. Natürlich spielen da andere Werte neben Stack und Reach auch eine Rolle und selbst, wie der RAD-Wert sich aus Stack und Reach zusammensetzen sollte, hängt auch wieder von z.B. dem Lenkwinkel ab oder ob man vor allem steil bergab fährt oder doch eher in gemäßigterem Terrain unterwegs ist.
... zum Thema "Agilität und Balance":
Es wurde ja in den Kommentaren schon verschiedentlich angesprochen, dass das Verhältnis von Front-Center zu Rear-Center (FC/RC) eine wichtige Rolle spielt. Das kann ich nur unterstreichen. Ich hatte ja oben gesagt, dass ich beim Mountainbiken nicht auf meinen Armen liegen will. Ich will aber sehr wohl Druck auf meinem Vorderrad haben. Wird das Front-Center im Vergleich zum Rear-Center zu lang, wird das ohne viel Gewicht auf dem Lenker (und damit auf den Armen) nicht gehen.
Zu kurz sollte das Front-Center aus verschiedenen Gründen aber auch nicht sein. Ergo gibt es einen Bereich des FC/RC, der ideal ist und bei dem das Bike als ausbalanciert wahrgenommen wird (passende Gewichtsverteilung zwischen Vorder- und Hinterrad). Ist das dann noch der Fall, wenn man als Fahrer ebenfalls ausbalanciert (also das meiste Gewicht auf den Beinen, etwas Gewicht auf den Armen) in einer guten Grundhaltung (Arme und Beine leicht gebeugt) auf dem Rad steht... bingo! Welchen Wertebereich dieser ideale FC/RC hat, ist wieder eine andere Frage und das mag durchaus von Fahrer zu Fahrer etwas unterschiedlich sein, für ein und denselben Fahrer aber wahrscheinlich bei verschiedenen Rädern sehr ähnlich (gleiche Haltung und gleiches Gefühl, was eine gute Gewichtsverteilung zwischen den Rädern ist).
Was jetzt hinsichtlich Agilität noch eine Rolle spielt, ist die Gesamtlänge, also FC + RC (a.k.a Radstand). Allerdings nicht, weil ein Bike von sich aus ab einem bestimmten Radstand weniger agil wäre. Zunächst ist es so, dass manche ein insgesamt langes Rad durchaus als agil erfahren, während andere ein kurzes Rad als nicht agil erachten. Ich denke, das hat mit der Balance zu tun (im Sinne eines passenden FC/RC). Bin ich in einer balancierten Haltung auf einem balancierten Bike, dann tue ich mich einerseits leicht, aus dieser Haltung heraus eine Bewegung auszuführen und entsprechend einen Impuls auf das Bike zu geben, andererseits bewirkt der Impuls viel, weil das Bike quasi in einer Gleichgewichtslage ist. Fehlt die Balance, tue ich mich schwerer, den nötigen Impuls zu geben (weil ich in einer nicht optimalen Haltung auf dem Bike bin, um das Bike balanciert zu halten, z.B. viel Gewicht auf den Armen) oder das Bike reagiert nicht entsprechend auf den Impuls, weil es vielleicht durch den Impuls zuerst in die Gleichgewichtslage und dann erst darüber hinaus gebracht wird (weil ich zwar in einer bewegungsbereiten Grundhaltung bin, aber das Bike damit nicht ausbalanciert ist). Im schlimmsten Fall kommt beides zusammen.
Ist das Bike nun im obigen Sinne ausbalanciert, spielt die Radlänge (bei ansonsten entsprechenden Proportionen, also insbesondere konstantem FC/RC) insofern eine Rolle, als dass eine Verschiebung des Körperschwerpunkts um eine bestimmte Distanz bei größerer Radlänge eine geringere Verschiebung der Gewichtsverteilung zwischen Vorder- und Hinterrad bewirkt. Sprich das längere Rad braucht eine größere Bewegung für den gleichen Bewegungsimpuls auf das Rad, es ist weniger agil.
Hier gibt es noch zwei Punkte zu bedenken:
Einerseits spielt die Größe des Fahrers eine Rolle. Ein großer Fahrer hat einen höheren Körperschwerpunkt, wodurch sich die Verschiebung des Körperschwerpunkts stärker auswirkt (Hebelwirkung! zusätzlich tut sich ein größerer Fahrer leichter, seinen Körperschwerpunkt weiter zu verlagern wegen seiner längeren Arme und Beine). Aus diesem Grund empfindet ein kleiner Fahrer ein Bike eventuell als träge, das ein großer Fahrer als sehr agil erfährt (die bloße Länge spielt wie gesagt eine untergeordnete Rolle).
Andererseits gilt es zu bedenken, dass es sich dabei um ein zweischneidiges Schwert handelt. Wie bereits öfters angesprochen wurde, fahren einige Top-Enduro-Athleten vergleichsweise kleine Bikes. Sie haben aber sowohl die Fahrtechnik als auch die Kraft, um Steuerbewegungen beim Fahren sehr gezielt und kontrolliert auszuführen. Bei einem kleineren Bike brauchen sie dann weniger Bewegung und damit Kraft, was ihnen auf die Distanz gesehen natürlich zugute kommt. Hat ein Fahrer eine schlechtere Technik, kann er das mit noch mehr Kraft ausgleichen. Er fährt dann ein etwas größeres Bike, was ihm erlaubt, etwas unpräziser in seinen Bewegungen zu sein. Jeder gezielte Steuerimpuls muss dann allerdings noch intensiver ausgeführt werden, kostet also mehr Kraft. Schlechter sieht es dagegen für den Fahrer aus, der zwar die Technik hat, aber nicht die Kraft. Wird es rumpelig, hat er nicht die nötige Kraft, seine Bewegungen auf einem kleinen Bike genau zu koordinieren. Geht er deshalb auf ein größeres Bike, bräuchte er allerdings noch mehr Kraft, um das Bike zu den gleichen Manövern zu bewegen. Für einen Fahrer wie mich, der weder Kraft noch Technik hat, bringt ein längeres Bike (im Sinne des Radstandes, nicht nur des Reach oder FC) vor allem ein Plus an Sicherheit, weil ich damit weniger Unfug anstelle.
So, genug geschrieben. Viel Spaß beim Auseinandernehmen des Posts. Würde mich freuen, wenn's jemand macht, zeigte es doch, dass ihn zumindest einer gelesen hat.