HPP mit Kettenumlenkung - Wirkungsgrad von Umlenkrollen

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Bike der Woche
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„HPP“ (High-Pivot-Point) ist wieder in. Dass ein hoher Schwingendrehpunkt gerade bei den großen 29er-Laufrädern Sinn macht, hat 77Designz in ihrer Beitragsreihe zum „Kavenz“ sehr schön dokumentiert >. Commencal feiert mit dem HPP-Konzept Erfolge im Downhill und auch andere Hersteller wie Norco oder Deviate bieten aktuell Bikes mit hohem Drehpunkt an.

Eines haben alle Bikes gemein: die Umlenkrolle im Zugtrum der Kette. Die Umlenkung ist notwendig, um bei einem hohen Drehpunkt vernünftige Anti-Squat-Werte zu erreichen. Tatsächlich bietet die Umlenkrolle den Vorteil, dass unabhängig von der Kettenblattgröße eine optimale Hinterbau-Kinematik gestaltet werden kann.

Aber: immer wieder ist von den Verlusten im Antriebsstrang durch die Umlenkung die Rede – ohne jedoch genaue Zahlen zu nennen.



Ich hatte vor vielen Jahren zu diesem Thema einen Artikel geschrieben. Veröffentlich wurde er in gedruckter Form (ja, so lange ist das her …) in der „Pro-Velo, Ausgabe 54“. Damals ging es in erster Linie um Liegeräder, denn dort sind Umlenkungen im Zugtrum häufig zu finden.

Quellenangabe zu den technischen Hintergründen: „Maschinenelemente“ von Niemann & Winter; Springer-Verlag


Hier eine überarbeitete Version zum Thema „Wirkungsgrad von Umlenkrollen“.
 
Hilfreichster Beitrag geschrieben von Onkel_Bob

Hilfreich
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Zusammensetzung der Verluste
Die Verlustleistung bei Kettengetrieben setzt sich aus folgenden Komponenten zusammen:


Umlenkrolle_Bild1.png


Die Stoßverluste sind bei geringen Kettengeschwindigkeiten < 1 m/s nicht von Bedeutung. Auch die Leerlaufverluste sind gering und sollen hier nicht betrachtet werden. Die Verluste durch die Lagerbelastung bewegen sich im Bereich von 0,1 % unter der Voraussetzung, dass Wälzlager verwendet werden.

Als entscheidende Größe für den Wirkungsgrad bleibt die Reibverlustleistung:
 
Reibverlustleistung
Die Reibverlustleistung kommt durch das Abknicken der Kettenglieder zustande:

Umlenkrolle_Bild2.png


Beim Abknicken um den Winkel t wird zwischen Bolzen und Lasche die Arbeit WV verrichtet. Sie ergibt sich aus dem Reibwert zwischen Bolzen und Lasche, der Längskraft (Kettenzug) FL und dem Reibweg s:

Umlenkrolle_Bild3.png


Die Kette wird an der Umlenkrolle zweimal geknickt - einmal beim Auflaufen und einmal beim Ablaufen. Gleichzeitig bewegt sich die Kette um ein Glied weiter, wodurch eine Arbeit
Umlenkrolle_Bild4.png

übertragen wird.

Bei Übertragung der Arbeit W wird also zweimal die Reibarbeit WV in Wärme umgewandelt, so dass sich der Wirkungsgrad wie folgt berechnet:
Umlenkrolle_Bild5.png
 
Wirkungsgrad von Kettentrieben allgemein
Aus der obigen Formel lässt sich der Wirkungsgrad von Kettentrieben (zunächst ohne Umlenkung) berechnen. Die Winkel als t1 und t2 ergeben sich aus den Zähnezahlen von Kettenrad und Ritzel:
Umlenkrolle_Bild6.png

Als Beispiel hier die Wirkungsgrade für einen typischen 1*12-Antrieb für die extremen Gänge (der Reibwert ist natürlich stark abhängig von der Schmierung der Kette):
Umlenkrolle_Bild7.png
 
Wirkungsgrad der Umlenkrolle
In gleicher Weise lässt sich der Wirkungsgrad der Umlenkrolle berechnen, denn es gelten die gleichen Verhältnisse (Abknicken der Kette unter Last). Die Zähnezahl beim Auf-/Ablaufen der Kette ist gleich und die Formel vereinfacht sich:
Umlenkrolle_Bild8.png

Beispiel:
Umlenkrolle_Bild9.png

Für den Gesamtwirkungsgrad des Kettentriebs müssen die einzelnen Wirkungsgrade multipliziert werden. Am Beispiel des 1*12-Antriebs ergeben sich folgende Werte:
Umlenkrolle_Bild10.png
 
Kettenschräglauf
Der Kettenschräglauf ist in all diesen Betrachtungen nicht berücksichtigt. Meiner Meinung nach ist der Effekt auch schwierig in Formeln zu fassen, da die Beweglichkeit der Kette (stark abhängig vom Alter/Verschleißzustand der Kette) eine große Rolle spielt.

Letztlich tritt aber der Kettenschräglauf bei allen Mehrfach-Antrieben auf, unabhängig von der Umlenkrolle. Es spielt damit für eine Entscheidung für/gegen eine Kettenumlenkung keine Rolle.
 
Fazit
Über den dicken Daumen kann man sagen: durch die Umlenkrolle verdoppeln sich die Verluste. Bei einem gut geschmierten Antrieb ohne Umlenkung kann man von ca. 99% Wirkungsgrad ausgehen – mit Umlenkung sind es etwa 98% (abhängig von der Zähnezahl der Umlenkrolle).

Die Zähnezahl der Umlenkrolle sollte nicht zu klein sein. Im obigen Beispiel mit 16 Zähnen liegt der Wirkungsgrad der Umlenkrolle bei ca. 99%. Bei 10 Zähnen sinkt aber der Wirkungsgrad auf rund 98%. Das bedeutet nicht nur mehr Reibung, sondern auch mehr Verschleiß.
 
Praxiserfahrung mit meinem Enduro
Reibungsverluste durch die Umlenkrolle mit 20 Zähnen sind nicht spürbar, da spielt der Reifendruck eine wesentlich größere Rolle. Der etwas höhere Kettenverschleiß wird durch die längere Kette kompensiert. Für mich überwiegen die Vorteile (hoher Drehpunkt => optimale Raderhebungskurve) deutlich.

Die Umlenkrolle muss enorme Kräfte aushalten und verschleißt auch stark, obwohl kein Drehmoment übertragen wird. Umlenkrollen aus Kunststoff/Aluminium haben sich bei mir nicht bewährt. Ich verwende statt dessen ein Edelstahlritzel.


Viele Grüße

Onkel_Bob
 
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