Der Sommer zog mit den Gaensen nach Sueden

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3. April 2003
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Liebe Leser,

Im Sinne guter alter Erzaehltradition, deren qualitative Messlatte durch die exzellenten Alpenberichte von Rob und Rikman nun noch hoeher gehangen wurde, moechte ich mich auch an einem Aufsatz zu meinem sonntaeglichen Ausflug versuchen:

Am Samstagabend reifte in mir der Entschluss, am Sonntag eine Tour zu meiner Verwandschaft nach Rittgarten - einem kleinen Dorf ca. 15km westlich von Prenzlau – mit dem Rad zu unternehmen. Mit einer frisch ‚erworbenen’ Top25 Brandenburg Nord machte ich mich sogleich kuehn daran, eine Wald- und Wiesenroute von O-Burg nach besagtem Rittgarten auszukundschaften und mit Wegpunkten zu markieren. Jeder erfahrene ESKler wird jetzt natuerlich sofort die Haende ueber dem Helm zusammenschlagen, ob meines straeflichen Versaeumnisses, die oberste Kapazitaet in Bezug auf Brandenburger Streckenplanung, Genosse Jockel, nicht vor Fahrtantritt konsultiert zu haben, aber ihr wisst ja, es war Samstag abend und der vielleicht letzte Spaetsommertag wartete darauf, mit dem Drecksrad genossen zu werden.
Da ich als traditioneller Flachlandindianer noch auf die alte Art pirschen gehe und somit auch kein elektronisches Navigationsunterstuetzungssystem mein eigen nenne, druckte ich mir die Strecke auf 20 kleine Kartons von ca. 9x13 cm, die gut in meine hintere Trikottasche passten und sich bei voller Fahrt noch ertraeglich lesen liessen.

Punkt 06:00 Uhr frueh, es war noch immer dunkel, ging es vom S-Bhf Oranienburg los. Ich hatte mich auf Grund der Wetterprognose auf einen frischen Morgen mit langsam durchbrechender Morgensonnenwaerme eingerichtet, doch schon nach ein paar hundert Metern zeichnete sich ab: es war kalt, schweinekalt!
Die Kaelte sollte aber meine morgendliche Euphorie nicht trueben, und so ging es geschwind aus Oranienburg heraus, an Sachsenhausen vorbei nach Friedrichsthal. Die Fussgaengerbruecke ueber den Malzer Kanal war leicht zu finden und Malz war auch schnell durchfahren: vor mir lag nun der Wald, an dessen Rande die Havel noch leise schlief.
Wenn man so alleine in aller Herrgottsfruehe durch den Wald faehrt, dann beschleichen einen die merkwuerdigsten Gedanken. Eigentlich waere es ein willkommener Zeitpunkt, die Loesung fuer den Weltfrieden zu entwickeln, die Periodizitaet von PI nachzuweisen oder einfach nur sich vorzustellen, welches traumhaft schoene Bike man sich kaufen wuerde, wenn man doch nur genuegend Geld haette. Stattdessen meint man, der Wald bewegt sich, Killerwildschweine haben deine Faehrte aufgenommen und wenn du an der naechsten Weggabelung falsch abbiegst, landest du geradewegs im Hexenhaeuschen des schon seit langem gesuchten Massenmoerders. Kurzum, ich hatte ein klitzekleines bisschen Schiss und war froh, mit dem ersten Licht des anbrechenden Tages die ersten Gehoefte von Neu Holland zu erreichen. Von dort fuhr ich dann Richtung B167, die ich bald darauf ueberquerte und nach ein paar Kilometern Lamprechtswalde erreichte. Um mich herum dampften und glitzerten die bereiften Wiesen und die Luft war klar wie an einem Wintertag. Ein kurzer Blick auf meinen HAC liess die Metapher Wirklichkeit werden: 0 Grad Celsius!
Weiter ging es nach Krewelin, wo ich einen alten Bauern nach dem Weg fragte, um mich gegen Fehler des TOP25 abzusichern. Der alte Bauer nahm erst mal seine Brille aus der Tasche, drehte meine kleine Pappkarte mehrmals um 360 Grad zwischen den Fingern hin und her, drehte sie auch oefter auf die Rueckseite, die weiss war, und sagte dann: „Jaaaaa.“ Nachdem ich mein Anliegen erneut vorgetragen hatte, sprach der Bauer unter fortwaehrendem Drehen der Karte: „Jaaaaa, jetzt weiss ich erst mal, wo wir sind!“ Er sagte mir dann, dass der Weg, den ich mir ausgesucht hatte, nicht zu fahren sei, da es dort nur Sand und Wiesen gebe. In meiner Einfalt vermutete ich, der Bauer sei noch nicht ganz wach, rede und benehme sich wirr und kenne eh nur die Wege von der Weide bis zum Haus, zur Dorfkneipe und zurueck, doch merke: hoere auf die Worte eines Bauern!
Anfaenglich ging es sich gut an, der Weg war nicht allzu sandig, Traktorenspuren zeugten von Zivilisation, doch dann bogen die Traktorenspuren ab, geradeaus schien es weiterzugehen. Erst war der Weg noch fest, wurde aber immer sandiger. Ich hatte einen festen Willen und mein Ziel lag voraus. Ich ging vorne auf das mittlere Blatt. Nach einiger Zeit wurde es noch sandiger und ich stur. Ich aergerte mich ueber den Bauern und ging vorne auf das kleine Blatt. Dann sah ich vorne Licht am Ende der Wueste und frohlockte schon, doch Schande: die Wueste endete an einem Bach, welcher ohne Bruecke, die natuerlich eingefallen war, nicht zu ueberqueren war. Grrrrrrr! Ich hasste den Bauern, den maerkischen Sand und die Leute von TOP25 sowieso!!!!
Voller Grimm machte ich mich auf den Rueckweg, folgte den Traktorenspuren und gelangte so nach Wesendahl. Ich hatte erst mal das Vertrauen in meine Karten verloren und so besann ich mich auf die Ratschlaege des Bauern: von Wesendorf Richtung Kappe, dann vor Kappe links rein nach Kurtschlag und noch vor Kurtschlag wieder links weg nach Grunewald. Hinter Grunewald halbrechts in den Wald hinein beginnt ein Waldweg, der kurze Zeit spaeter in dem kleinen Ort Bassdorf muendet. Der Weg faellt vor Bassdorf leicht ab, links und rechts stehen ein paar schmucke Haeuschen und kurz dahinter verschwindet er auch schon wieder mit einem kleinen Anstieg im Wald. Die Sonne tauchte alles in ein freundliches Licht und alles schien irgendwie surreal unwahr.

Fortsetzung folgt
 
Das Thermometer zeigte immer noch nicht mehr als 3 Grad und meine Fuesse spuerte ich schon nicht mehr. Der Weg von Bassdorf nach Templin mitten durch den Templiner Stadtforst war sandig und tief und ich quaelte mich mit grossem Gang. Ich hatte schon bei einer vorherigen Pause meine beiden Energiegels aufgezehrt (apropos: ich hatte mir die Gels mal zum Testen bei Stadler gekauft und mein vernichtendes Urteil lautet: sinnlos und teuer!) und beschloss, in Templin beim Baecker eine heisse Schokolade zu trinken und etwas leckeres zu essen. Je mehr ich an diese heisse Schokolade dachte, desto schlimmer wurde mein Wahn. Ich schaute ein um das andere mal auf die Karte, um meine Position und die Distanz bis nach Templin zu ueberpruefen. Schon sah ich mich ohnmaechtig vom Rad fallen (was war nur los mit mir???), da sah ich rechts am Wegesrand ein Prachtexemplar eines maerkischen Apfelbaumes zur Herbstreife. Ach wie ich diese Apfelbaeume liebe, die mit ihren einladenden Fruechten schon die eine oder andere Katastrophe ausgeloest haben. Doch in diesem Falle war mir das Paradies egal, zu koestlich schienen mir die Aepfel, die dort oben leuchteten. Der alte Schuettel-den-Ast Trick (und damit meine ich den Ast des Apfelbaumes, ihr Perverslinge!) half nichts, ich musste hinauf. Zum Glueck hat niemand gesehen, wie ich mit klammen Fingern bei dem Versuch, hoch oben im Baum den Apfel zu pfluecken, als wenn es der letzte fuer mich waere, fast abgestuerzt bin. Ein Ast brach ab und ich schrammte ein wenig am Stamm, aber der Apfel war sicher!
Wie ein Taugenichts sass ich dann auf einem Stein am Wegesrand und liess mir den herrlich suessen Apfel munden. Die Sonne lachte mir ins Gesicht, vor mir lag die Welt und neben mir mein treuer Gefaehrte, fuer den ich leider kein Leckerli wie Kettenoel oder eine brandneue Fox Talas zur Ermunterung dabei hatte.
In Templin macht der Baecker am Sonntag, und jetzt haltet euch fest, um 09:30 Uhr zu. Ich kam um 09:34 bei dem Baecker in Templin an, womit ihr zum einen wisst, wie lange ich bis dahin unterwegs war und zum anderen, dass aus der heissen Schokolade nichts wurde. Ein paar Meter weiter gab es eine Tanke, an der ich Proviant fasste (hat schon mal jemand diese neue Rittersport mit Guarana Crunch probiert?).
Ich fuehlte mich anschliessend wesentlich besser, es waren mittlerweile ertraegliche 8 Grad und ich machte mich auf zum naechsten Etappenziel Boitzenburg. Vom Faehrkrug ging es am Wasser entlang nach Knehden und weiter durch eine halboffene Moraenenlandschaft ueber Metzelthin nach Warthe. Es ist interessant, wie sich der Charakter der Landschaft hinter Templin nach Norden zu aendert. Die flache Flusslandschaft wird abgeloest durch sanfte Huegelformationen, hier und da mit Gruen und Braun betupft, in den Niederungen schimmert meist das Blau eines kleinen Weihers oder Sees und ab und an zeugt das neue Rot eines renovierten Kirchdaches in der Ferne von den Spuren jahrhundertealter Besiedlung. Unser Brandenburg ist doch einfach ein schoenes Land mit unheimlich vielen Facetten.
Der Weg von Warthe nach Boitzenburg ist schwierig zu finden; ich habe mich ein paar mal verfahren und mir versucht, die von meiner Karte abweichenden Wege zu merken. Dort wuerde GPS schon Sinn machen, zumal man diese Strecke auch anderen zur Verfuegung stellen koennte.

Fortsetzung folgt
 
Boitzenburg ist ein Ort mit zwei Gesichtern. Von Sueden kommend sieht man schon die Burginsel mit der Burg, gleich darauf auch eine alte Kirche und alles hat so einen gewissen mittelalterlichen Charme. Weiter ab im Ort scheint man sich dessen bewusst zu sein, und weniger Wert auf die aeussere Erscheinung zu legen. Bevor man mir nun im Forum diese typische Grosstadtarroganz vorwirft, moechte ich gleich anmerken, dass ich die Verhaeltnisse dort oben sehr gut kenne (ich habe dort Verwandschaft) und Verstaendis aufbringe. Wenn ich 45 Jahre fuer die LPG im Stall gestanden habe und am Ende ein wenig mehr Rente bekomme, als Florida-Rolf oder Jacht-Hans oder PorscheBike-Jochen Sozialhilfe, dann wuerde ich mich auch am Sonntag um 10:00 Uhr morgens mit dem Korn ins Bushaltestellenhaeuschen setzen und den Gaensen wehmuetig bei ihrem Flug nach Sueden hinterherschauen...
Nachdem ich mich ja schon wieder verfahren hatte, wollte ich den weiteren Streckenverlauf durch zwei Einheimische, die auch auf den schon lange nicht mehr dort verkehrenden Bus warteten, bestaetigen lassen. Ich habe mich schon oft gefragt, was manche Menschen eines besonderen Schlages dazu bringt, grundsaetzlich die dritte an Stelle der zweiten Person zu verwenden: „Was will er denn?“, fragten sie mich, als ich anhielt und Guten Morgen wuenschte. Als ich meine Kaertchen, nun schon etwas ramponiert vom haeufigen Gebrauch, herausholte, konnten sie sich ein Grinsen nicht verkneifen: „Jaaaaaaaa.“, da war er wieder, dieser tiefsinnige, bauernschlaue, vom fruehen Alkohol oder von der harten Arbeit geroetete Gesichtsausdruck: „Wo will er hin?“ Es war doch zum Verzweifeln. Ich zeigte erst auf den rot markierten Weg auf meinen Kaertchen, dann las ich einzelne Ortsnamen, die links und rechts des Weges lagen, laut vor, keine Reaktion. Dann sagte ich Prenzlau, nur mal zum Test. „Jaaaaa, da muss er nach Boitzenburg, ist alles ausgeschildert“. Seufz.
Um weiteren Enttaeuschungen aus dem Weg zu gehen, fuhr ich den Rest der Strecke Strasse, was eigentlich auch schoen war. Viel Wald gab es auf den letzten 15km sowieso nicht mehr viel. Die Landschaft ist gepraegt durch weite Ackerflaechen, die sich ueber die Huegel winden. Im Zuge der Foerderung der erneuerbaren Energiegewinnung durch den Bund und die EU spriessen die Windraeder wie Pilze aus dem Boden. Ich habe meinen Meinungsbildungsprozess bezueglich dieser „weissen Pfaehle“ noch nicht abgeschlossen und schwanke zwischen „wenn alle 10m ein Windrad gebaut wird, braucht Deutschland keine Atomenergie mehr“ Gruen-Realo-Oeko-Vernunft Getue und „die Dinger sind haesslich, sinnlos, teuer und wenn wir zu viele davon aufstellen, wird die Erdrotation zu sehr gebremst, und wir muessen alle sterben“ Haltung.
Genau 11.23 Uhr kam ich in Rittgarten auf dem Hof meines Onkels an, eine Strecke von 112km war bewaeltigt worden und der Durschnittspuls lag bei 143. Die Tiefsttemperatur betrug 0 Grad, die Hoechsttemperatur 14 Grad. Laut HAC habe ich 484hm erklommen und stand dabei auf dem Gipfel eines 154m Berges (das kann aber nicht ganz stimmen, ich finde bei der Hoehenmessung spinnt mein HAC immer)

Trotz der Kaelte eine herrliche Fahrt, die zum Nachfahren (wenn auch nur von Teilstuecken) einlaedt. Der Sommer ist vorbei, ich habe ihn mit den Gaensen ueber das Brandenburger Land wegziehen sehen.

Urfin
 
da stolpere ich zu später stunde nochmal ins forum und werde dafür mit deinem bericht belohnt! urfin - gleich hau ich mich in die koje und rate, was mich in die welt der träume begleiten wird? ein toller bericht, da hat der rob weise gesprochen!

bitte lass weitere folgen... menis
 
Teils anrührend, mit äußerst schöner Bildsprache, mit trockenem Humor und einigen Lachern versehen und in einem flüssig zu lesenden Stil. Noch dazu fehlerfrei und mit Großschreibung.
Ein solcher Bericht braucht keine Bilder.
Großartig.

Da bekommt man glatt Lust, selbst mal wieder eine solche Entdeckungsfahrt zu unternehmen...

now playing: Tape - Yeeha
 
Mensch Urfin, ich dachte du bist der knallharte Talliban-Kämpfer, den nichts erschüttern kann. Aber siehe da, unter der rauhen Schale sprießt ein junges ängstliches Prosapflänzlein. Hut ab und mehr davon!

Ritzelflitzer
 
Eine schöne Strecke (bis auf die Gegend um Neuholland, aber da muß man wohl durch, wenn man von O-burg kommt) und vor allem eine schöne Geschichte. Das gibt mächtig Punkte.
Original geschrieben von urfin
Dort wuerde GPS schon Sinn machen, zumal man diese Strecke auch anderen zur Verfuegung stellen koennte.
Nanana, wir wollen doch sachlich bleiben. Nur weil man mal einen Weg nicht gleich findet, gleich nach höherer Hilfe rufen... Jedes Handwerk will eben gelernt sein.
 
Ein wunderschöner Bericht!!!

Ich werde immer ganz sentimental, wenn ich durch Brandenburg fahre; es ist schon sehr, sehr schön, was man dabei sieht, erlebt, erfährt....
Ich finde sogar die Bauern toll, die sind so urig...

:wink: trilli
 
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