AchseDesBoesen schrieb:
und was ist mit schach? synchronschwimmen? minigolf? eiskegeln? lateinamerikanischem turniertanz?
Doping im Eiskunstlauf... a true report:
«Im Eiskunstlauf bringt es doch gar nichts»
Befunde über Möglichkeiten und Nutzen von Doping in einer kompositorischen Sportart
Die neue Saison im Eiskunstlauf hat so begonnen, wie die letzte zu Ende gegangen ist: Mit einem Sieg der Amerikanerin Michelle Kwan. Wie an den Weltmeisterschaften im vergangenen März in Nizza setzte sie sich auch an der Skate America in Colorado Springs durch. Was Zuschauer und Athleten von Nizza mit über den Sommer genommen haben, ist jedoch nicht nur die Erinnerung an die elektrisierende Vorstellung der kalifornischen Studentin, sondern umfasst auch die Vorgänge um die russischen Titelhalter im Paarlauf, Elena Bereschnaja und Anton Schikarulidse. Eine Dopingprobe an den vorangegangenen Europameisterschaften hatte bei ihr einen erhöhten Wert einer Substanz aus der verbotenen Gruppe der Stimulanzien ergeben. Da die Läuferin nachher geltend machte, sie habe den Wirkstoff «aus Versehen» mit einem üblichen Grippemittel eingenommen, handelte es sich vermutlich um Ephedrin, eng verwandt mit dem Pseudo- Ephedrin, auf Grund von dessen Konsum man an den Olympischen Spielen in Sydney an der kleinen rumänischen Turnerin Andrea Raducan ein Exempel statuierte.
Während die professionellen polyvalenten Sportreporter schnell die eingeübte «Wir haben es doch schon immer gewusst»-Haltung einnahmen, glaubte das grosse Heer derer, die sich durch allerlei Hilfsdienste die Nähe zu dieser eigentümlichen Glitzerwelt verschafft haben, Tamara Moskwina, der Trainerin des verurteiltenPaares, aufs Wort. Diese behauptete allen Ernstes, gar nichts von Doping zu wissen.
Zwei Missverständnisse
Da zum Sport Mythenbildungen offenbar einfach dazugehören, wurde als Beweis für ein bedauerliches Versehen angeführt, was angeblich jeder Insider wisse: Im Eiskunstlauf nütze doch Doping gar nichts. Es komme dabei auf ganz andere Fähigkeiten an, bei denen rohe Muskelkraft nur hinderlich sei. Mit solchen Behauptungen arbeiten andere Sportarten ebenfalls schon sehr lange und erfolgreich, auch wenn sie wie zum Beispiel im Falle des Fussballs längst widerlegt sind (siehe D. Venutti: Doping. NZZ-Verlag 2000). Dass dieses Argument immer noch verfängt, hat mit zwei weitverbreiteten Missverständnissen zu tun. Im Eiskunstlauf stünden weniger athletische und konditionelle Anforderungen im Vordergrund als Koordination, Anmut und Ausdruckskraft, heisst das eine. Weil man vornehmlich Kraftsportler aus wenig einflussreichen östlichen Ländern ins Messer laufen lässt, wird Doping - das zweite Missverständnis - lediglich mit dem Abfüllen mit Anabolika gleichgesetzt.
Während der Radrennfahrer am Mont Ventoux dekorative Schweisstropfen fliessen lässt, die 400-Meter-Läuferin effektvoll hinter dem Ziel zu Boden sinkt oder der Speerwerfer seine Anspannung ins Stadion schreit, tun Eiskunstläufer alles, damit man genau das nicht sieht: die ungeheure Anstrengung. Vielmehr soll es mühelos, spielerisch und leichtfüssig wirken. Dabei stellt eine Spitzenkür in der heutigen Zeit durchaus mit anderen Sportarten vergleichbare athletische Anforderungen. Ein Eiskunstläufer dürfte in den 4½ Minuten seines Programmes etwa 1600 bis 2000 Meter zurücklegen. Auf der Tartanbahn wäre das eine sehr gute Leistung. Anders als der Leichtathlet kann der Kufenkünstler allerdings nicht kraft- ökonomisch nacheinander zulaufen, sondern er schaltet quasi alle 20 Sekunden einen 100 Meter- Sprint mit anschliessendem Hochsprung dazwischen.
Besonders ein Sprung hat es in sich. Die Drehgeschwindigkeit (2100°/s bei einem Vierfachsprung) wird in keiner anderen Sportart auch nurannähernd erreicht, sei es Wasserspringen, Kunstturnen oder Trampolinspringen, hat Karin Knoll in einem Vergleich am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig festgestellt. Die maximalen Flugzeiten lagen etwa an den letzten Olympischen Spielen bei 0,76 s. Knoll schliesst aus ihren Daten, dass ein Vierfachsprung nur mit Flugzeiten von über 0,72 s zu erreichen ist und nur konditionell sehr starke Läufer einen schweren Sprung auch noch nach 3 Minuten bewältigenkönnen. Während sich ein Hochspringer nach seinem Satz bequem ins Kissen unter der Stange fallen lassen kann, ist für den Eiskunstläufer auf dem Weg zum Boden die Arbeit noch nicht getan. Auch das Abfangen des Sprung, das Abfedern des Aufpralls und das Stoppen des Dralls bei der Landung erfordern annähernd nochmals den gleichen Kraftaufwand.
Mit Abschaffung der Pflicht und den dadurch freigesetzten Ressourcen hat Anfang der neunziger Jahre die Athletik stark an Bedeutung im Eiskunstlauf gewonnen. Es ist nicht anzunehmen, dass in Zukunft bei den Männern noch ein Medaillenrang ohne (mindestens) einen Vierfachsprung zu erreichen ist. Auch bei den Damen müssen Dreifachsprünge in Kombination direkt hintereinander gemeistert werden. Nun gibt es Verfechter einer reinen Technikschule, die glaubt, durch Umsetzung überlegener biomechanischer Erkenntnisse könne der Drehimpuls so markant erhöht werden, dass Vierfachsprünge auch ohne hohen Kraftaufwand und mit relativ kurzer Flugzeit möglich sind. Dabei wird jedoch vergessen, wie viele Wiederholungen der sechs Sprungtypen notwendig sind, bis eine solch optimierte Technik internalisiert ist. Das knappste und teuerste Gut für einen Eiskunstläufer ist Zeit auf dem Eis. Deshalb gilt die einfache Formel: Je fitter der Läufer in Kraft und Ausdauer ist, desto mehr Sprünge kann er in begrenzter Zeit absolvieren und umso effektiver ist das Techniktraining. Aber wo bleibt denn die immerhin 50 Prozent zählende B-Note, mag hier mancher einwenden. Ohne Zweifel, im Eiskunstlauf muss das «whole package», wie es amerikanische Preisrichter gerne nennen, das Zusammenspiel von Technik, Athletik, Choreographie und Attraktivität vorhanden sein. Allerdingswird ein Sportler, der die Kraft-Technik-Anforderungen souverän meistert, weit mehr Raum für die künstlerische Gestaltung haben, als einer, der am körperlichen Limit agiert.
Einen Eiskunstläufer oder eine Eiskunstläuferin auf die vielfältigen und extremen Anforderungen ihres Sports medizinisch optimal vorzubereiten - oder eben zu «dopen» -, ist keine einfacheSache. Wenn der heute in Deutschland tätige ehemalige Cheftrainer der Sowjetunion, AlexanderWedenin, erzählt, man habe damals an den Mitgliedern des zweiten Kaders Anabolika (vermutlich aus der DDR stammendes Turinabol) ausprobiert und daraufhin seien die Läufer wie führerlose Ufos durch die Luft geflogen, ist das eine nette Anekdote. Er will damit beweisen, dass diese Substanzen im Eiskunstlauf nichts nützen, da der Kraftzuwachs auf Kosten der koordinativen Fähigkeiten gehe. Das Beispiel zeigt aber lediglich, dass es bei den muskelaufbauenden Mitteln ganz wesentlich auf die Dosierung und den gezielten Einsatz nur in bestimmten Trainingsphasen ankommt.
Kein Risiko
Matthias Kamber, Leiter des Fachbereiches Dopingbekämpfung beim Bundesamt für Sport, geht davon aus, dass auch im Eiskunstlauf anabol wirkende Medikamente verwendet werden, und zwar im Aufbautraining, wenn gezielter Kraftzuwachs gebraucht wird, sowie nach Verletzungen. Danach kann das Mittel wieder abgesetzt werden, denn die Muskeln verschwinden ja nicht, wenn der Trainingsreiz aufrechterhalten wird. Damit wird klar, warum Anabolika bei den Wettkampf-Dopingkontrollen (bis auf einen unterschwelligen Nandrolon-Fall 1998) im Eiskunstlauf noch nie nachgewiesen wurde. Das Risiko, in Trainingskontrollen während des Jahres «hängen zu bleiben», ist relativ gering. Ganze 19 Tests wurden im letzten Jahr weltweit durchgeführt.
Dem Sporthistoriker Giselher Spitzer, der sich an der Universität Potsdam mit dem Erbe des DDR-Sports beschäftigt, liegen gesicherte Informationen vor über mindestens eine Läuferin aus dem Olympiakader, die mit «unterstützenden Mitteln» (Doping im DDR-Sprachgebrauch) behandelt wurde. Wenn im Folgenden häufig Beispiele aus der DDR angeführt werden, heisst daskeinesfalls, dass nur dort besonders viel und raffiniert gedopt wurde. Infolge der Gegebenheiten der jüngsten deutschen Geschichte steht jedoch von dort eine Fülle von systematisch erhobenen Daten zur Verfügung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich durch die Zwänge des Sportbusiness gewisse - erlaubte oder verbotene - Praktiken überall etablieren, sobald sie sich als nützlich erweisen. Von aussen kann man diese an bestimmten Mustern erkennen. Dazu gehört laut Kamber etwa der überraschende Leistungseinbruch bisher überragender Favoriten nach Aufdeckung eines Dopingfalls, wie er an den letztenWeltmeisterschaften im Eiskunstlauf zu beobachten war. Typisch ist auch der rasante Aufstieg einer bisher eher mittelmässigen Athletin, wenn deren Ehemann oder Freund dann noch aus einer der klassischen Doping-Sportarten kommt. Dazu fallen einem schnell prominente Namen ein: aus dem Schwimmsport, der Leichtathletik oder eben dem Eiskunstlauf.
Auf Kosten der Grazie?
Denkt man an die schlimmen Folgen des staatlich verordneten Anabolika-Dopings etwa bei den Schwimmerinnen, stellt sich die Frage, ob solche Nebenwirkungen für den Eiskunstlauf überhaupt in Kauf zu nehmen wären. Die klassischen Anabolika haben nicht nur sichtbaren Zuwachs derMuskelmasse und des Gewichts zu Folge, sondern auch androgene Wirkung, das heisst eine Vermännlichung der weiblichen Physiognomie. Beides ist im Eiskunstlauf keinesfalls erwünscht. Wird ein Läufer oder eine Läuferin schwerer und breiter, kann dies verheerende Auswirkungen auf die Fähigkeit zur schnellen Rotation haben. Bereits in der DDR wurde jedoch an Turnerinnen mit dem aus anderen Gründen umstrittenen STS- 646 ein Anabolikum eingesetzt, das zu einer verbesserten Energiebereitstellung führte, ohne gleichzeitig das Gewicht zu erhöhen. Ob heute eher mit Beta-2-Agonisten (z. B. Clenbuterol) oder den wahrscheinlich anderweitig problematischen Wachstumshormonen (siehe Kasten) gearbeitet wird, darüber lässt sich nur spekulieren. Neben der Frage der Dosis spielen wohl auch die hohen Kosten für die modernen, weniger virilisierenden (und nicht nachweisbaren) Mittel eine Rolle.
Zwischen den Ohren
Misslingt im Training oder im Wettbewerb eine Aufgabe gründlich, benötigt ein Sportler durchschnittlich 21 Wiederholungen des gleichen Elements, um dieses wieder deblockiert und mit voller Energie anzugehen. Dieses Ergebnis aus psychologischen Tests in verschiedensten Disziplinenist ganz besonders im Eiskunstlauf von grundsätzlicher Bedeutung. Wie es ein amerikanischer Trainer einmal formulierte: «75 Prozent des Sieges findet zwischen deinen beiden Ohren statt; nur der Rest darunter.» Die wenigsten Eiskunstlauf- Zuschauer sind sich bewusst, welch grosse Ausnahme ein von A bis Z gelungenes Programm darstellt. Die entscheidenden Elemente gelingen auch im Training bei weitem nicht immer. Wird in den alles entscheidenden Minuten an Olympischen Spielen versagt, sind Ruhm und Millionen verloren.
Gefordert ist die richtige Mischung aus Euphorie und Konzentration, aus Tollkühnheit und Gleichmut, Aggressivität und Gelöstheit. Aber auch der eher bodennah stattfindende Eistanz, bei dem Stürze ganz selten sind, hat seine eigenen extremen psychischen Anforderungen. Je nach Charakter des Tanzes soll das Paar überschäumende Lebensfreude oder innigste Gefühle präsentieren, wenn ihm eigentlich vor Angst speiübelist. Die Belastungen nicht nur mit psychologischer Hilfe, sondern auch medikamentös abzufedern, ist wohl schon immer ein Thema in diesem Sport gewesen. Ein deutscher Spitzenläufer aus der Vergangenheit berichtet, wie ihm sein Trainer riet, vor dem Wettkampf einen Piccolo (kleine Flasche Sekt) zu trinken. Alkohol steht übrigens auch auf der Dopingliste. Das bei der ertappten russischen Paarläuferin Bereschnaja vermutlich gefundene Ephedrin ist ein klassisches Stimulans, das in vielen rezeptfreien Mitteln gegen Erkältung vorkommt, kurzfristig die Leistungsbereitschaft steigert und die Stimmung hebt. Schon problematischer ist das in der gleichen Gruppe der Dopingmittel aufgeführte Kokain, worauf die Eistänzerin Krylowa (Weltmeisterin 1998, 1999) an den russischen Meisterschaften 1997 positiv getestet worden sein soll.
Wieder sind es Hinweise in den aus der DDR- Zeit gefundenen Akten, die auf die Spur weit raffinierterer Möglichkeiten zur Steigerung der Wettkampfpsyche, aber unter Umständen auch zur Förderung adaptiver Prozesse im Training führen. Zuerst ist hier das bereits in den siebziger Jahren aufgetauchte Aponeuron zu nennen, ein Psychostimulans, das ähnlich wie das heute in den USA weit verbreitete Ritalin an Kindern mit «attention disorder» (Hyperaktivität) eingesetzt wird. Bei Erwachsenen erzeugt es den sogenannten Tunnelblick einer absoluten und euphorischen Konzentration auf nur eine Sache, was ein ehemaliger Eiskunstlauf-Preisrichter bei Läufern des öfteren beobachtet haben will. Zudem zeigen Studien eine Verbesserung der Fein- und Grobmotorik. Mit Hilfe solcher Mittel die negativen Folgen von Anabolika für die Koordination auszugleichen, könnte also zumindest versucht worden sein.
Wehenmittel für Soldaten
Es sind Aufzeichnungen über eine wissenschaftliche Konferenz in Leipzig 1986 erhalten, die sich mit psychotropen Substanzen im Doping-Programm der DDR beschäftigte. Interessanterweise nahmen daran auch Forscher aus Militär und Luftfahrt teil. Berichtet wurde unter anderem über Neuropeptide, konkret wird Vasopressin genannt, welches die «operationelle Zuverlässigkeit von Leistungssportlern bei hohenemotionalen und mental-konzentrativen Belastungen fördert». An anderer Stelle in den Aktentaucht Oxytocin auf. Bei beiden Wirkstoffe handelt es sich um Hormone, die auf einem ganz anderen Gebiet sehr geläufig sind. Sie werden bei der Geburt zur Auslösung der Wehen eingesetzt. Darüber hinaus weiss man heute, dass Peptidhormone Aufmerksamkeit, Motivation, Konzentration und Erregung beeinflussen sowie angstregulierend wirken. Es gibt auch Hinweise darauf,dass sie eine Rolle bei Lern- und Erinnerungsprozessen spielen. In den USA hat man Vasopressin und Oxytocin bei Vietnam-Veteranen mit Kriegstrauma eingesetzt und getestet, wie diese auf die Konfrontation mit Kampfszenen reagieren. Die Substanz wurde dabei in Form eines Nasensprays von Novartis zugeführt.
An den letzten Weltmeisterschaften wurde beobachtet, wie verschiedene Eiskunstläufer sich kurz vor ihrem Auftritt etwas in die Nase sprayten. Die leitende Ärztin ordnete daraufhin zusätzliche Dopingtests an, die jedoch nichts ergaben.Sollte es sich um eines der angedeuteten Hormone gehandelt haben, hätte man mit den üblichen Tests auch nichts finden können, denn es handelt sich um Stoffe, die den körpereigenen identisch sind. Wie man weiss, können Menschen in Extremsituationen über sich hinauswachsen und ungeahnte Leistungen vollbringen. Als Michelle Kwan in Nizza als erste der Favoriten aufs Eis trat, wusste sie, dass sie alles wagen musste. Gut möglich, dass sie sich in eine solche Tod-oder-Leben-Stimmung versetzen konnte und ihr Körper die Ausschüttung all der notwendigen Stoffe selbst veranlasste. Es ist aber wichtig zu wissen, dass dies auch auf anderem Weg geschehen kann.
Ruth Spitzenpfeil
31. Oktober 2000
NZZ
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