Ich konnte das Ion GPI gestern in Lübbrechtsen probefahren. Gerne hätte ich es letzte Woche schon am Geisskopf getestet, aber dort hatten die Presseleute Vorrang.
Ich bin 196 groß und deshalb die Longest-Variante gefahren:
Eindrücke bergauf:
Der steile Sitzwinkel ist generell klasse zum Bergauffahren, ich sitze mit meiner Länge auch bei ausgefahrener Stütze nicht wie bei den meisten anderen Rädern komplett über dem Hinterrad sondern immer noch schön über dem Tretlager. Der flache Lenkwinkel ist überhaupt keine Einschränkung, bergauf hilft er sogar in Verbindung mit den langen Kettenstreben, das Vorderrad satt am Boden zu halten. Eine übermäßige Tendenz zum Abkippen des Lenkers habe ich ebenfalls nicht feststellen können, aber ich bin auch flache Lenkwinkel vom Downhiller gewohnt. Die langen Kettenstreben erfordern etwas mehr Zug beim Wheelie/Manual, das habe ich mir aber weitaus schlimmer vorgestellt. Mit dem tiefen Tretlager muss man etwas aufpassen, wo man pedaliert, ich schätze es war eine 170er Kurbel montiert (muss ich nochmal checken). Dazu noch der lange Radstand und es ist klar, dass das Rad für enge technische Anstiege jetzt nicht unbedingt erste Wahl ist. Auch wollen über 16kg erstmal berghoch getreten werden, bei längeren Tragepassagen wirds dann lustig - manche stehen ja auf sowas.
Bergab:
Das Rad ist für den seichten Haustrail in Lübbrechtsen natürlich völlig überdimensioniert, aber für einen ersten Eindruck hats auf jeden Fall gereicht. Das Ion braucht Druck auf dem Vorderrad, das war nach den ersten zwei flachen Kurven sofort klar. Im Gegensatz zu allen anderen Rädern, die ich bisher gefahren bin, habe ich auf dem Ion aber auch den Platz dafür meine Grundposition entsprechend anzupassen. Hat man sich einmal darauf eingestellt, dann kennt das Gerät bergab nur noch einen Modus, und der heisst Vollgas. Die Länge, der flache Lenkwinkel und das tiefe Tretlager geben enorm Sicherheit und verleiten regelrecht zum Stehenlassen. Kleinere Wurzelfelder werden einfach weggeschnupft, jede Kante verführt zum Abziehen, und schon bei der zweiten Abfahrt durchfräse ich die flachen Kurven des kurzen aber schnellen Singletrails mit dermaßen hohem Grundspeed, dass die eigentlich weitgezogenen Kurven plötzlich zum engen Slalom werden. Das Rad wirkt auf mich erstaunlich agil und keinesfalls zu lang, ich würde sogar evtl. noch einen 50er Vorbau in Erwägung ziehen. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass die Longest-Variante auch noch für Leute unter 190 in Frage kommen könnte, die ein bergablastiges Enduro suchen. Wie gut das Teil dann auf steilen, alpinen Singletrails gehen muss, kann ich an dieser Stelle nur erahnen. Mit Werten, die manchem Downhill-Bike gut zu Gesicht stehen würden, darf man hier aber sicher einiges erwarten.
Pinion-Getriebe:
Bin ich nicht mit warm geworden. Zum Hochschalten muss man entlasten, das hat man aber relativ schnell raus. Auch an die größeren Gangsprünge würde ich mich sicher schnell gewöhnen. Aber ich bin einfach kein Gripshift-Typ. Ich brauche bergab dicke Lockon-Griffe mit guter Dämpfung und nix was sich ungewollt mitdreht, wenns mal zur Sache geht. Die Ganganzeige ist unbrauchbar und die einzelnen Raster im Vergleich zu bspw. einem Sram Gripshift wenig definiert. Unter Last spürt man das arbeitende Getriebe in den Pedalen und ist gefühlt nicht vollständig verlustfrei unterwegs - Einbildung? Ich weiss es nicht. Ein unabhängiger Wirkungsgrad-Vergleich zwischen Pinion und Kettenschaltung würde mich mal interessieren. Bleiben noch ca. 1,5kg Zusatzgewicht und ein gesalzener Aufpreis - mir fällt es schwer das zu rechtfertigen.
Gut gefallen hat mir dagegen die nahezu lautlose Funktion durch den Gates Riemen, das ist wirklich ein Traum bergab - kein Geschepper, kein Klappern, einfach gut. Auch trägt das leichte Hinterrad ohne Kassette und Schaltwerk sicher seinen Teil zum agilen Wesen und der guten Hinterbauperformance des Ion GPI bei. Die Übersetzungsbandbreite ist darüber hinaus jedem 1fach-Antrieb haushoch überlegen (600% zu 420% bei XX1).
Mein Fazit:
Während alle anderen Bikehersteller nur rumhühnern (Mondraker mit ihrer Forward-Geo mal ausgenommen) und das Oberrohr jedes Jahr ein paar mm länger und den Lenkwinkel ein paar Minuten flacher machen geht Nicolai mit der mit Chris Porter entwickelten Geometrie an die sinnvollen Grenzen und zeigt was möglich ist. Und Überraschung: das ganze funktioniert hervorragend! Das Piniongetriebe ist jetzt nicht unbedingt mein Fall, aber die Geometrie ist ein Volltreffer und auch ohne das Getriebe zu haben. Dann ist dann auch bei der längsten Rahmengröße ein realistisches Gesamtgewicht von unter 15kg drin. Statt den Kunden mit immer unnötigeren neuen "Standards" zu gängeln hat man sich hier mal aus der Komfortzone gewagt und ein innovatives Konzept vernünftig zuende gedacht. Bitte mehr davon!
An dieser Stelle nochmal ein dickes Dankeschön an die supernetten Jungs von Nicolai! Schon irgendwo ein sympathischer Laden.