"Warum nicht unbedingt eine Scheibenbremse - oder - Wieso gibt es Wiesmann-Fahrräder nach wie vor auch mit Felgenbremsen?
Die Schlacht ist zwar längst geschlagen, aber trotzdem möchte ich darauf eingehen, weil an der Scheibenbremse so schön gezeigt werden kann, dass letztlich fast alles, was der Mensch schafft, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist. Aus meiner Sicht gibt es mehr Gründe, die gegen eine Scheibenbremse sprechen, als solche dafür. Und das sage ich nicht, weil ich diese Entwicklung verschlafen hätte. Schon 1995 habe ich Rahmen mit Scheibenbremsaufnahmen gebaut; zu einer Zeit, wo man die Hersteller solcher Rahmen an einer Hand abzählen konnte. Aber lassen Sie mich erst auf die Gründe der Scheibenbremsenverfechter eingehen.
Das am meisten vorgebrachte Argument ist immer, die Scheibenbremse habe sich auch bei allen anderen Fahrzeugen durchgesetzt. Dieses Argument verkennt aber komplett, dass das Fahrrad das einzige Fahrzeug ist, das eben ausschliesslich durch Muskelkraft betrieben wird. Die Scheibenbremse hat sich an anderen Fahrzeugen nur deshalb durchgesetzt, weil die vergleichsweise schlechte Bremsleistung durch die Servounterstützung kompensiert wurde, und weil Gewicht an Motorfahrzeugen schon immer eine untergeordnete Rolle gespielt hat (Schon mal versucht, ein fahrendes Auto bei ausgeschaltetem Motor zum Stehen zu bringen? Weshalb wohl sind Auflaufbremsen z.B. nie Scheibenbremsen?)
Am Fahrrad ist eine solche Servounterstützung nicht vorhanden - man könnte so etwas natürlich erfinden und die dafür notwendige Energie aus der rotierenden Masse abziehen - sie ist aber auch gar nicht nötig. Eine gute Fahrrad-Scheibenbremse bringt den Fahrer locker zum Überschlag. Aber das schafft die Felgenbremse genauso. Denn es geht ja nur darum, die Energie im Finger möglichst verlustfrei in die Bremszange zu leiten. Hier gibt es keine ausschlaggebenden Unterschiede. Der Rest ist eine Frage der Reibpartner (Belag/Scheibe bzw. Felge) sowie des Übersetzungsverhältnisses. Von der Theorie her bezüglich Bremsleistung eine Pattsituation. Dass die Abstimmung der Reibpartner
Bremsbelag-Fahrradfelge noch Entwicklungspotential geboten hätte, steht ausser Frage. Und diese Entwicklung wäre teuer gewesen, während man bei der Scheibenbremse diese Entwicklung nicht selber leisten musste, sondern übernehmen konnte.
Wo es aber keine Pattsituation gibt, ist beim Gewicht. Eine Scheibenbremse ist um ein Vielfaches schwerer als eine Felgenbremse. Und Gewicht sollte bei einem Fahrradkonstrukteur eigentlich immer oberste Priorität haben. Die Scheibenbremse hat mit der Scheibe nicht nur ein zusätzliches Bauteil, welches Gewicht hat, durch die asymmetrische Bauweise und die ungünstige Krafteinleitung über die Nabe werden Nabe, Nabenspanner, Speichen sowie Rahmen und Gabel deutlich schwerer. Einzig die Felge selbst kann minimal leichter gestaltet werden.
Ein weiteres falsches Argument ist die Behauptung, die Scheibenbremse sei sicherer, weil die Felgenbremse an „tragenden Bauteilen“ herumschmirgle. Was passiert wohl, wenn man eine Bremsscheibe nicht rechtzeitig ersetzt, sondern fährt, bis sie bricht? Die Folgen sind ebenso fatal, wie wenn man eine Felge fährt, bis sie platzt. Eine fachmännische Wartung ist für die Sicherheit bei jedem Fahrrad unabdingbar. Eine verschlissene Felge wird dabei genauso erkannt wie eine verschlissene Scheibe.
Nur bei Nässe, Schnee und extremem Schlamm ist die Scheibenbremse überlegen. Aber wie viel Prozent aller Fahrradfahrer fahren wie oft wirklich bei diesen Bedingungen?
Noch zwei Erfahrungen aus dem Alltag. Erstens: Fahren Sie einmal in einer Gruppe mit fünf Bikern. Erfahrungsgemäss hört man bei mindestens einem von ihnen, dass die Scheibenbremsen schleifen, ohne das gebremst wird.
Zweitens: Kürzlich war ich mit meiner Familie auf einer mehrtägigen Radtour. Das waren fünf Fahrräder mit fünf verschiedenen Bremsmodellen aus unterschiedlichen Baujahren. Aber es hat gereicht, ein Bremskabel und einen Satz
Bremsbeläge mitzunehmen, um für 95% aller denkbaren technischen Probleme gerüstet zu sein - weil alle fünf Räder mit seilzugbetriebenen Felgenbremsen ausgestattet waren. Stellen Sie sich vor, was man hätte mitnehmen müssen, um das gleiche Mass an Unabhängigkeit zu erreichen, wenn die Räder mit Scheibenbremsen ausgestattet gewesen wären.
Wie eingangs gesagt, die Schlacht ist geschlagen, die Felgenbremse wird zur Nische in der Nische werden. Und weil die Entwicklung von Felgenbremsen vor 15 Jahren aufgehört hat, und diejenige von Scheibenbremsen weitergeht, werden sie eines Tages wahrscheinlich auch in jeder Hinsicht besser sein. Das ist das Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Aber wenn wir schon bei Prophezeiungen sind: Stellen Sie sich vor, es kommt eine Generation, die vergessen hat, dass es je einmal etwas anderes als Scheibenbremsen gab. Und an diesem fernen Tag würde eine junge, kreative Erfinderin eine Bremse erfinden, welche die Bremse selbst um ca. 50% leichter werden lässt, und nicht nur das, sogar die Naben und Speichen würden ca. 40% leichter, die Gabel 30% leichter und der Rahmen 10% leichter. Als einzigen Nachteil, müsste die Erfinderin einräumen, hätte ihre Konstruktion ein etwas schlechteres Nassbremsverhalten, aber sie arbeite mit einem Felgenhersteller an dem Problem. Was wäre dann wohl los?"
(Dieser Text ist von der Homepage von
www.wiesmann-bikes.de)