Ich finde, der Artikel ist ein guter Anfang, aber so sehr vereinfacht und auf die Fokussierung auf den Lenkwinkel geschnitten, daß er schon fast mehr Unwissen produziert als Wissen.
In sehr vielen Bereichen (nicht nur MTB) wir immer versucht, eine Fülle von Parametern mit einem einzigen Wert zu beschreiben. Gerade die Fahrstabilität von Fahrrädern ist da ein sehr heikles Thema, das nach meinem Wissen noch nicht vollständig verstanden ist. Und hier wird der Eindruck vermittelt, daß der Lenkwinkel ein Hauptmerkmal für die Fahrstabilität ist.
Ein ganz wichtiger Wert, der nur am Rand erwähnt wird, ist der Nachlauf. Ohne den wird ein Rad praktisch unfahrbar. Wie der Nachlauf erzielt wird, hängt dann sehr von anderen Rahmenbedingungen ab, z.B. gewünschter Radstand, Federungsrichtung (für Federgabeln), Laufradgröße, konstruktive Vorgaben (z.B. gerade Gabel, Federgabel), gewünschte "statische" und "dynamische" Fahrstabilität (bringe ich weiter unten noch), usw. .
Wenn man in die Liegeradszene schaut, sind dort sehr viele radikal andere Konstruktionen zu finden als im MTB-Bereich. So gibt es Liegeräder mit ca. 95° Lenkwinkel (d.h., die Gabel zeigt nach hinten), um einen möglichst kurzen Radstand zu erzielen, bei gegebener Sitzlänge. Genauso gibt es die Knicklieger ("Flevos"), die einen Lenkwinkel von geschätzt 45° haben. Bei den Fronttrieblern (z.B. Zox), wo die Gabel wegen dem Kettenzug gerade sein muß (ohne Gabeloffset), hat sich bei den 20"-Rädern ein Lenkwinkel mit ca. 75° als sehr gut herausgestellt. Alle diese haben gute, angenehme Fahreigenschaften, weil eben die Gesamtheit von allen Parametern sorgfältig gewählt worden sind. Auch der "Urahn aller Bikes", das Rad von Drais, hat gute Fahreigenschaften gehabt, und das bei einem Lenkwinkel von 90°. Er hat dafür einen Gabeloffset von ca. -15 cm gehabt (die Gabel war also ca. 15 cm nach hinten "gebogen"), was einen sehr satten Nachlauf von ca. 15 cm ergeben hat. Viele der "Nachbauten" haben genau diese Konstruktionsmerkmale mißachtet und Null Nachlauf eingebaut. Entsprechend unfahrbar waren diese Geräte dann.
Auch die Bemerkung, daß ein flacher Lenkwinkel ein abkippendes Fahrverhalten bringt, ist so nicht richtig. Beispiel: Die uralten "schwarzen Schleifer", die einen sehr flachen Lenkwinkel haben, sich aber auch bei Schrittgeschwindigkeit freihändig fahren lassen. Das hängt gerade in diesem Fall auch mit dem flachen Lenkwinkel und dem großen Gabeloffset zusammen. Diese Kombination bewirkt, daß beim Einlenken die Einbauhöhe vergrößert wird, und in der Folge das gesamte Rad (Rahmen) angehoben wird. Dadurch ergibt sich eine "statische" Stabilität, sprich, die Lenkung geht auch im Stand auf "geradeaus", weil das dem niedrigsten Gesamtschwerpunkt entspricht. Umgekehrt gibt es Konstellationen aus Lenkwinkel, Laufradgröße und Gabeloffset, bei denen der Schwerpunkt beim Einlenken nach unten geht. Statisch ist so ein Rad "labil", weil es im Stand immer einlenken will. So eine Konstellation habe ich mal an einem Liegerad gehabt. Durch die "dynamsiche Stabilität" (Nachlauf, Kreiselkräfte), die nur beim Fahren wirken kann, war das Rad ganz locker und angenehm zu fahren, so lange man den Lenker gehalten hat, und wenn es nur mit einem Finger war. Beim Lenker loslassen ist man aber sofort in eine Kurve geschossen.
Wie im Artikel ja angeschnitten, haben die flacheren Lenkwinkel auch viel zu tun mit den inzwischen akzeptierten längeren Radständen und der damit verbundenen geringeren Überschlagsgefahr. Nur muß halt dann alles angepaßt werden, auch der Gabeloffset. Und da wird es halt schwieriger, weil die Gabelhersteller verständlicherweise keine Kleinstmengen mit ungewöhnlichen Offests bauen wollen. Wobei ich mal die Frage in den Raum stellen will, warum alle aktuellen Gabeln den Offset über einen Versatz unten am Ausfallende machen, und nicht über einen Winkel oben an der Gabelbrücke, was z.B. bei der allerersten RockShox der Fall war.
tl;dr : Der Lenkwinkel ist nur ein Parameter aus einer ganzen Fülle von Parametern, die verschiedene Vorgaben unter einen Hut bringen müssen. Ihn isoliert zu betrachten bringt wenig für das gesamte System.