In unserem Grundlagen-Artikel zum Thema Rahmen haben wir uns auch ein wenig mit dem Thema „Lenkwinkel“ befasst, doch in Anbetracht der starken Entwicklungen auf diesem Feld ist es mehr als angebracht, dem Thema „Gradwanderung“ einen eigenen Artikel zu widmen.
Noch vor wenigen Jahren haben wir mit Stolz die „neuen flachen“ Lenkwinkel um 66 Grad präsentiert bekommen. Doch in den letzten Jahren hat sich, geprägt von den Entwicklungen im Downhill World Cup, kaum eine Größe der Geometrie so stark entwickelt wie der Lenkwinkel. Und 66° sind längst nicht mehr revolutionär, sondern nur eine von vielen Zahlen. Genau diesem Wirrwar wollen wir näher auf den Grund gehen und einige einfache sowie einige weitergehende Fragen rund um den Lenkwinkel erörtern.
Was ist der Lenkwinkel am MTB?
Hinweis: „Lenkwinkel“ ist der umgangssprachlich eingebürgerte Begriff für den Lenkkopf-, Kopf- oder Steuerkopfwinkel. Obwohl sich der falsche Begriff etabliert hat, werden wir ihn in diesem Artikel verwenden – auch wenn „Lenkwinkel“ eigentlich den Grad des Lenkeinschlags bezeichnet.
Der Lenkwinkel bei einem Fahrrad beschreibt den Winkel, den eine Gerade durch das Steuerrohr / die Gabel mit der Horizontalen einschließt. Gemessen wird der Lenkwinkel in der Ansicht von rechts (Antriebsseite), indem man von der Horizontalen im Uhrzeigersinn bis zur Gabel misst. Als Extremwert wäre hier ein 90° Lenkwinkel als Beispiel anzuführen. 90° Lenkwinkel würde bedeuten, dass die Gabel mit der Horizontalen einen Winkel von 90° einschließt, also senkrecht zum Boden steht.
Wie groß ist der Lenkwinkel an einem Mountainbike?
So unterschiedlich, wie die Einsatzbereiche eines Mountainbikes sind, so unterschiedlich sind auch die Lenkwinkel der Fahrräder, die in diesen Bereichen gefahren werden. Dennoch lassen sich – gerade wegen der verschiedenen Kategorien – ein paar Richtwerte nennen. Bleibt nur noch die Frage: Warum sind diese Lenkwinkel in der Regel so, wie sie sind? Um diese Frage zu beantworten, wollen wir einen Schritt weiter gehen und versuchen zu verstehen, wie sich der Lenkwinkel auf die Geometrie eines Fahrrades auswirkt.
Der reale Lenkwinkel
Dynamischer vs. statischer Lenkwinkel
Eine Problematik mit dem Lenkwinkel ist nämlich, dass er sich verändert, wenn man auf dem Rad sitzt oder mit dem Fahrrad fährt. Mit dem statischen Lenkwinkel möchte ich die Situation bezeichnen, in der das Fahrrad unbelastet in der Ebene steht. Unter diesen Bedingungen kann ein eindeutiger Lenkwinkel gemessen werden, der auch dem Wert entsprechen sollte, den die Hersteller in ihren Datenblättern angeben.
In der Ebene weisen viele vollgefederte Fahrräder bei sitzendem Fahrer hinten aber einen größeren Sag auf als vorne, wodurch das Tretlager gegenüber der Front absinkt und der Lenkwinkel flacher wird. Bergauf verschiebt sich der Schwerpunkt noch weiter nach hinten, der Lenkwinkel wird noch flacher. Bergab schließlich wandert der Schwerpunkt zwischen den Achsen weiter nach vorne, die Gabel federt stärker ein, der Hinterbau aus, und der Lenkwinkel wird steiler. Wie kontraproduktiv! Gerade bergab wünschen wir uns doch einen flacheren Lenkwinkel, und bergauf einen steileren.
Dieses Problem ist ziemlich einzigartig für Mountainbikes, da das Fahrergewicht ein Vielfaches des Fahrradgewichts beträgt. Relevant ist natürlich nur der Lenkwinkel während der Fahrt – doch bisher ist kein Weg in Sicht, diesen aussagekräftig zu beziffern, weshalb weiterhin mit dem statischen Wert aus dem unbelasteten Zustand gearbeitet werden muss.
Was beeinflusst der Lenkwinkel?
Dadurch, dass der Lenkwinkel bestimmt, in welchem Winkel die Gabel zum Boden steht, hat er maßgeblichen Einfluss auf das Fahrverhalten eines Fahrrades. Das hat mehrere Gründe: Ein flacherer Lenkwinkel führt zu einem größeren Nachlauf. Der Nachlauf ist die Strecke zwischen Reifenaufstandspunkt und dem virtuellen Durchstoßpunkt des Lenkwinkels im Untergrund, abzüglich des Gabel-Offsets. Klingt kompliziert, heißt aber nur: Durch die Neigung der Gabel wird das Vorderrad wie ein Rad am Einkaufswagen „gezogen“ und dadurch beruhigt. Je länger die Nachlaufstrecke, desto ruhiger wird das Vorderrad, desto laufruhiger das Bike.
Ein flacher Lenkwinkel schiebt das Vorderrad weiter nach vorne. Damit vergrößert sich der Abstand der Vorderachse zum Fahrerschwerpunkt, es braucht mehr Lehnung nach vorne, um über’s Vorderrad zu gehen.
Last but not least: Da Radaufstandspunkt und Durchstoßpunkt des Lenkwinkels in der Fahrebene nicht identisch sind, führt eine Lenkbewegung nicht nur zur Richtungsänderung, sondern auch zu einer leichten Absenkung des Fahrrads. Das lässt sich bei genauem Hinsehen erkennen und hat eine Konsequenz: Wird der Lenker eingeschlagen, so erzeugt die Schwerkraft ein Lenkmoment, das Fahrrad verstärkt also sein Einlenken von selbst. Dem wird bei ausreichender Geschwindigkeit (aber erst dann!) durch die im Radaufstandspunkt angreifenden Kräfte entgegengewirkt. Bei hohen Geschwindigkeiten merkt man hiervon also nichts, bei geringen ist das „abkippende Lenkverhalten“ durch den flachen Lenkwinkel leicht erspürbar.
Vereinfacht kann man also sagen: Ein steilerer Lenkwinkel führt zu einem handlicheren, quirligeren Fahrverhalten, während ein flacherer Lenkwinkel mehr Laufruhe und damit Trägheit ins Rad bringt. Außerdem sorgt ein flacherer Lenkwinkel dafür, dass Mann oder Frau bei starken Kompressionen weniger dazu neigt, über den Lenker abzusteigen. Im Allgemeinen ist ein flacherer Lenkwinkel immer dann gut, wenn es steiler und schneller wird.
Folgendes Beispiel erläutert die Situation recht anschaulich: Befindet sich ein Fahrrad auf einer um 30° geneigten Ebene, so resultiert daraus bei einem Fahrrad mit 70° Lenkwinkel ein theoretischer Lenkwinkel von 100° – also ein Steuerrohr, das sich vor der Vorderradachse befindet (den Vorlauf der Gabel außen vor gelassen). Bei einem Lenkwinkel von 60° ergibt sich folglich ein theoretischer Winkel von 90°, womit das Steuerrohr genau über der Vorderradachse wäre. Dieser Unterschied ist durchaus erheblich, wenn nun in dieser Situation gelenkt und gesteuert werden soll. Der flache Lenkwinkel hilft dabei, das Vorderrrad „in Richtung des Abgrundes“ vorzustrecken und daraus Fahrsicherheit und Kontrolle zu ziehen. Umgekehrt ist ein flacher Lenkwinkel im Uphill nicht sonderlich hilfreich, denn das ohnehin schon schwer zu belastende Vorderrad wandert unter diesen Umständen ebenfalls weiter nach vorne, was einerseits die Kontrolle erschwert, andererseits aber auch nicht verhindert, dass das Rad nach oben steigt und nur wenig Traktion beim Lenken vermittelt. Aus diesen Überlegungen ergeben sich direkt die ungeschriebenen Gesetzmäßigkeiten, dass XC-Bikes steilere Lenkwinkel haben als Downhill-Bikes.
Ein Blick auf den Lenkwinkel als eine Größe der Geometrie eines Fahrrades kann folgerichtig einigen Aufschluss über das Fahrverhalten eines Bikes geben – auch wenn es noch viele weitere Einflussfaktoren gibt. Doch da am Fahrrad sehr häufig gelenkt wird, lässt sich die Bedeutung des Lenkwinkels unschwer erkennen.
Ein ungewollter Nebeneffekt
Auf der Suche nach einem immer laufruhigeren Bike sind die Lenkwinkel in den vergangenen Jahren immer flacher geworden. Dabei ändert sich jedoch auch die Richtung, in der das Vorderrad einfedert – danach hat niemand geschrien, das ist einfach ein Nebeneffekt. Heißt: Die Richtung, aus der Stöße optimal aufgenommen werden können, ändert sich. In Konsequenz ist dies nur mehr bei immer größeren Hindernissen der Fall. Bei kleineren Hindernissen wird die Kraftkomponente senkrecht zur Bewegungsrichtung der Tauchrohre größer und – ja – die Schläge auf den Lenker härter. Das Thema ist groß genug für einen eigenen Dienstag, aber wir wollten es hier schon angesprochen haben.
Beeinflussung des Lenkwinkels am Mountainbike
Wer jetzt sagt: Mensch, ich muss dringend was an meinem Lenkwinkel ändern, für den haben wir eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Zunächst einmal ist der Lenkwinkel durch den Rahmenbauer festgelegt worden. Das Rohr ist in einem gewissen Winkel angeschweißt, fertig. Die gute: Dennoch könnt ihr den Lenkwinkel noch beeinflussen.
Stack-Änderung
Alles, was die Höhe des Steuerrohrs gegenüber dem Boden verändert, verändert auch den Lenkwinkel. Angefangen von einem Rad oder Reifen mit anderem Durchmesser über eine Gabel mit anderem Federweg oder zumindest einer anderen Einbaulänge (die Einbaulänge wird von der Achsenmitte bis zum Lagersitz gemessen, der Schaft wird nicht berücksichtigt!) oder einen Steuersatz mit einer flacheren oder höheren unteren Lagerschale. Keinen Einfluss auf den Lenkwinkel haben hingegen die Länge des Steuerrohrs, der Radstand oder die Oberrohrlänge. Ebenfalls ohne direkten Einfluss auf den Lenkwinkel ist auch der Vorlauf der Gabel.
Winkelsteuersätze
Es gibt jedoch auch andere Lösungen. In der selben Zeit, in der der Lenkwinkel stärker thematisiert worden ist, ist auch das Angebot an Lösungen gewachsen, die sich mit einer Manipulation des Lenkwinkels befassen. Die günstigste Art und Weise, den Lenkwinkel zu verändern, ist einen Steuersatz zu verwenden, der dafür sorgt, dass die Gabel nicht mehr konzentrisch durch das Steuerrohr verläuft, sondern geneigt. Die meisten Rahmen können mit exzentrischen Steuersatzlagerschalen versehen werden. Der bekannteste Vertreter ist Cane Creek mit dem Angle Set. Dieser Steuersatz ermöglicht es durch verschiedene obere Lagerschalen den Lenkwinkel um +-1,5°, +-1°, +-0,5° zu verändern. Je nach dem, welche der Lagerschalen eingepresst wird, ergibt sich damit ein gegenüber konzentrischer Lagerung abgeflachter oder steilerer Lenkwinkel. Ähnliche Angebote gibt es von Firmen wie K9, Works Components und so weiter.
Ändern der Dämpferposition oder Länge
Diverse Rahmen bieten die Möglichkeit, den Dämpfer unterschiedlich zu montieren, ein exzentrisches Bauteil zu drehen (sogenannte Flipchips) oder an einer anderen Stelle der Kinematik den Rahmen in eine andere Stellung zu bringen. Wichtig: Hierbei ändert sich der Lenkwinkel, so als würde das Fahrrad ein- oder ausfedern. Dadurch ändert sich aber leider auch sonst alles, als würde das Fahrrad ein- oder ausfedern. Besonders kritisch sind hier die Tretlagerhöhe und der Sitzwinkel. Der Sitzwinkel wird in gleichem Maße beeinflusst wie der Lenkwinkel. Das Tretlager sinkt mit flacherem Lenkwinkel ab und steigt mit steilerem Lenkwinkel an. Auch wenn euer Rahmen nicht über diese Möglichkeit verfügt, könnt ihr vielleicht auf diesem Weg am Lenkwinkel arbeiten: Exzentrische Dämpferbuchsen erlauben es, die Einbaulänge des Dämpfers zu ändern – der Effekt ist derselbe.
Fazit
Auf dem Lenkwinkel wird viel herumgeritten, dabei bestimmt erst die Kombination aus Lenkwinkel, Radgröße, Gabel-Offset und aktuellem Negativfederweg das tatsächliche Fahrverhalten. Wir sind jedenfalls gespannt, wie lange „immer flacher, immer länger“ auch tatsächlich „immer besser“ bedeutet – sprich: Wann ein Optimum erreicht ist. Was glaubt ihr? Habt ihr euer Optimum schon gefunden, eventuell sogar durch Experimentieren mit verschiedenen Winkeln?
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