Am Freitag werfe ich einen Blick auf den Wetterbericht: hm, sie melden Nordföhn. Also in den Süden und vom Mitwind profitieren? Aber dort hat's irgendwie nix, was mich mächtig anzieht. Wobei, es gibt da diesen Ort, den ich schon länger besuchen möchte. Aber Komoot meint was um die 245 km bis dorthin. Passt zwar zu meinem Jahresziel von einer 200km-Tour pro Monat, aber gleich so viel und mit einem schweren Pass? Vergiss es.
Beim Znacht meint meine Frau, ich soll's doch probieren, sonst kann ich ja einfach früher auf den Zug. Hm, stimmt, das ginge auch.
Nach dem Znacht versuche ich noch, meine schnellsten
Reifen zu montieren, aber die 29er sind zu kalt für die Demontage. Da verschiebe ich das Projekt auf ein andermal und sehe die dröflthunderste Walliser Gipfeltour vor. Um 21h streckt es mich nieder.
Um 00:30 bin ich wieder wach. Wieder einschlafen? Unmöglich, denn die Tour will mir nicht aus dem Kopf. Also stehe ich auf, wechsle die inzwischen angewärmten
Reifen, frühstücke und packe. Und um 02:30 purzle ich los.
Kurz nach der Abfahrt merke ich, dass mein Motorex-Ölfläschchen in der Rahmentasche ausgelaufen ist - igitt... Aber egal, rieche ich halt die nächsten paar Stunden wie ein Schraubergott. Und sowieso, Hauptsache unterwegs!
Vor Visp hat's ordentlich Verkehr: Frühschicht bei den Lonzawerken. Und in Visp leuchtet um 04:30 eine offene Bäckerei mit Nussgipfeln und einem Lavabo für meine Motorex-Hände
Komoot will mich netterweise auf der alten Strasse auf den Simplon schicken, bloss ist die nicht geräumt. Und so purzle ich zurück auf die teilweise dreispurige Hauptstrasse und erreiche über zahlreiche Kunstbauten die schönste Brücke der Schweiz:
Leider kommt auf dem Bild die wunderbare S-Form der Brücke nicht zur Geltung.
Hier sieht man sie. Ich bin ja ein grosser Fan unberührter Landschaften - aber diese Brücke ist einfach reinste Harmonie
Der Restaufstieg auf den Simplon ist nicht ganz so harmonisch: meine Füsse sind vor Kälte dermassen taub, dass mir auf dem Pass beim Gehen ganz komisch ist. Und die Galerien sind auch nicht prickelnd. Aber wenigsten hat es nicht viel Verkehr. Und der Wirt im Passrestaurant ist dermassen übellaunig, dass es schon wieder lustig ist.
Klar, mit seinen Galerien und dem teils starken Verkehr ist der Simplon nicht der Typ Pass, den ich normalerweise suche. Aber irgendwie ist er mit seiner Geschichtsträchtigkeit halt doch sehr cool! Und vor allem ist er mit dem Julier der einzige Schweizer Velopass über den Alpenhauptkamm, der garantiert das ganze Jahr über offen ist (ok, der Lukmanier spielt auch langsam in dieser Liga).
Auf dem Pass beginnt nicht nur die Abfahrt, sondern auch der Nordföhn. Bei Simplon Dorf kann ich nur dank einer starken Bremsung verhindern, dass mich eine Böe ab dem Velo weht. Ansonsten heisst es angesichts von maximal 32/11 beim Antrieb: rollen lassen
Ich schäme mich, aber ich will ehrlich sein: mich schaudert es immer ein bisschen, wenn ich aus der properen Schweiz in Bella Italia ankomme. Diese Unordnung, dieser totale Mangel an Effizienz und Organisation. Kleines Beispiel gefällig? Nach Varzo geht es für die Autos in einen für Velo gesperrten Tunnel. Dumm nur, dass auch die alte Strasse aussenrum auch gesperrt ist... Auf die Schnelle finde ich keinen Hinweis, was ich als Velofahrer tun soll, also probiere ich aussenrum. Und es klappt:
Der Italien-Schauder währt nie lange. Nach der ersten Pause in einer Bar bin ich wieder ganz verliebt in die Freundlichkeit und Coolness der Italiener. Und als ich bei einem Gruppetto von Rennvelofahrern eine Weile mithalten kann und mir einer den Faustgruss macht und "grande!" zuruft - hach
Ach ja, und die Wärme! Seit Wochen radle ich bei maximal -5°C zur Arbeit, und hier fahre ich oben einschichtig, und unten überlege ich mir sogar, kurz zu machen. Herrlich!
Entlang dem Lago Maggiore hat es sehr viele Velofahrer, und die Aussicht auf die Borromäischen Inseln und das Tessin ist toll:
In Arona bin ich zuversichtlich, dass ich es an mein Ziel schaffe, und ich kaufe mir am Bahnhof ein Ticket für den Rückweg. So ein Glück, im Eurocity hat's noch einen freien Velostellplatz
Da alles wie am Schnürchen läuft, gönne ich dem Cutthie und mir ein bisschen Abgehange:
Eine kurze Weile geht es dem Ticino entlang - herrlich!
Später ist eine Brücke gesperrt, aber ein Einheimischer meint, dass ich da schon drüber könne. Und dann fängt es an: über dutzende Kilometer geht es durch einen diffusen Siedlungsbrei. Links von mir reiht sich Auto an Auto, rechts von mir Fabrik an Shoppingcenter an Wohnhaus an Industriebrache an Bahnlinie. Und vor mir Kreisel an Kreisel, und später dutzende Ampeln. Und ausser mir kaum Velofahrer - beängstigend! Aber wenigsten habe ich flott Mitwind
Dann mehren sich die Zeichen, dass das Zentrum näher kommt: vereinzelt hat es Velowege, und erste Trams tauchen auf. Am Schluss werden die Autos durch Menschen abgelöst - sehr viele Menschen! Und dann bin ich da.
Nach 14h unterwegs und 257 km erreiche ich den Duomo di Milano
Wunderschön, wie der Dom die jeweilige Lichtstimmung spiegelt.
Als ich sehe, wie die alte Mühle gesichert ist, bin ganz froh habe ich ausnahmsweise ein recht massives Schloss dabei
Als absolutes Landei bin ich schwer beeindruckt von den Menschenmassen auf dem Domplatz.
Drinnen hat es ein wunderschönes Marienbild
Dann ist es Zeit Abschied zu nehmen.
Noch eine Pizza beim Türken, und ab auf den Zug. Schon noch ein gutes Gefühl, wenn man an einem Tag so weit gefahren ist, dass der Zug für den Rückweg 2h25 braucht
Karte.