Spannender, spektakulärer und faszinierender als alle Bisherigen sollte die Cross-Country-Saison 2016 werden. Alles stehe im Schatten des wichtigsten Rennens des Jahres – Olympia in Rio. Doch was ist übrig geblieben von den Vorhersagen am Anfang des Jahres? Wir versuchten zu Beginn der Rennsaison vorherzusagen, wer die Rennen dieses Jahr gewinnen würde und stellen nun fest, dass einiges anders gekommen ist als erwartet. Wie steht es um den Cross-Country-Rennsport nach dem so wichtigen Jahr 2016? Ein kritischer Rückblick.
Olympia – grandiose Bilder, aber das gewisse Etwas fehlt
Für jeden Sportler auf der Welt ist es wohl das Größte, an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen. Für die Mountainbiker bedeutet dieses Event noch viel mehr als in anderen Sportarten: Alle vier Jahre klettert der Sport aus den Tiefen des medialen Untergrunds auf und wird für die Breite der Öffentlichkeit bewusst sichtbar. Umso mehr ist es für alle Beteiligten und Liebhaber des Sports wichtig, dass der Sport sich bestmöglich präsentiert.
Und da brauchen wir Mountainbiker uns sicher nicht zu verstecken. Einmal mehr gelang es den Kursbauern und den Produzenten der TV-Bilder einen Sport zu präsentieren, der nur so von Action, Spannung und Leidenschaft strotzt. Die Strecke in Rio wurde von praktisch allen Fahrern gelobt, das Profil war eines der besten, auf der je eine Mountainbike-Rennen ausgetragen wurde.
Besser sogar als 2012 in London. Doch im Vergleich zu dem damaligen Event fehlte das gewisse Etwas: Bei den Rennen in London kribbelte es mehr, es herrschte regelrecht Gänsehautfeeling. Insbesondere die Zuschauermassen vor vier Jahren sorgten für eine unglaubliche Volksfestatmosphäre im Hadleigh Park nahe London. Aber auch die Streckenwahl hatte damit zu tun. So gab es in Rio leider viel zu viele Stellen, an denen sich keine Zuschauer aufhalten durften. Die Attacke von Nino Schurter auf dem Weg zur Goldmedaille fiel im Grunde genommen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Außer TV-Kameras waren in diesem Teil der Strecke keine Zuschauer zugelassen. Und man erinnere sich nur an das unglaubliche Kopf-an-Kopf-Duell zwischen Nino Schurter und Jaroslav Kulhavy in London, angepeitscht von den Zuschauern.
Und dann gab es noch die vielen Stürze auf der Strecke. Szenekenner wussten das einzuschätzen, die Strecke war keinesfalls fahrtechnisch zu schwer. Man sollte aber bedenken, dass Sprünge an seitenwindanfälligen Stellen zu einem enormen Risiko werden können – hätte man doch mal bei den Jungs von der Red Bull Rampage nachfragen sollen. Stürze gehören zum Mountainbiken dazu, doch die Frage stellt sich, inwiefern Strecken angepasst werden sollten, sodass die Fahrer im Falle eines Sturzes nicht erneut auf weiteren Steinen landen. Die Bilder des in Rio so schwer gestürzten Österreichers Alexander Gehbauer gingen um die Welt. Und sind das die Bilder, die wir von unserem Sport verbreiten wollen? Wohl eher nicht.
Sportlicher Rückblick #1 – Schurter endlich auf dem Olymp angekommen
Betrachtet man die sportliche Seite der olympischen Rennen, fällt auf, dass es schon spannendere Cross-Country-Rennen gab. Der ultimative Fight zwischen Kulhavy und Schurter in London war an Spannung wohl kaum zu überbieten, doch sowohl im Herren- als auch im Damenrennen von Rio lief das Rennen nach dem gleichen Muster. Sowohl Schurter als auch die Damensiegerin Jenny Rissveds fuhren etwa an der gleichen Stelle ihren Verfolgern davon und ließen eigentlich kaum Zweifel an ihrem Sieg aufkommen.
Für den Schweizer Bike-Hersteller, der beide unter Vertrag hat, natürlich ein unglaublicher Coup. Doch in gewisser Weise schadet dies dem Wert des Sports: Gäbe es zwei unterschiedliche Hersteller, die mit dem Olympiasieg werben könnten, würde die Bedeutung des olympischen Rennens steigen. So kam fast etwa der Eindruck auf, Olympia sei nur eines von vielen Rennen gewesen. Zumal sich die schweizer Firma durchaus auch noch in anderen Raddisziplinen vermarkten muss.
Nino Schurter wird das egal sein. Für ihn ist der Olympiasieg das Ziel einer langen Reise. „Hunt for Glory“ nannte man die medial aufgearbeitete Jagd nach dem so sehr ersehnten Olympiasieg. Wohl kein anderer Athlet hat sich in den letzten Jahren den Olympiasieg so verdient wie er. Auch wenn einige seinen ewigen Kontrahenten Julien Absalon vorne sehen wollten, ist es über die Jahre hinweg gesehen vielleicht „gerechter“, dass es endlich bei Schurter geklappt hat – zumal Absalon schon zwei Goldmedaillen gewonnen hat. Und nicht zu vergessen: Endlich richtig zurück im Geschehen war auch Jaroslav Kulhavy. Die Gladiatorenkämpfe der Vergangenheit ließen in den letzten zwei, drei Jahren nach und nun war der dritte im Bunde wieder zurück, und das, obwohl er anfangs des Jahres durch einen Armbruch so weit zurückgeworfen wurde. Selten hat es so Spaß gemacht, den Weltcup anzuschauen.
Seit nun fünf Jahren dominieren diese drei Fahrer den Weltcup nach Belieben, doch ein Ende könnte bald nahen. Die Jugend ist da! Lange Zeit mit großer Hoffnung angekündigt, schnupperten dieses Jahr erstmal die Hoffnungen der Zukunft am Triumph. Ein Name gilt es da ganz besonders hervorzuheben: Victor Koretzky. Was wäre passiert, wenn der 22-jährige Franzose in Rio keinen Plattfuß in aussichtsreicher Position bekommen hätte? Eine Medaille wäre keine Überraschung gewesen. Vierter im Gesamtweltcup, zweimal Zweiter im Weltcup: Es existieren Parallelen zu einem Schweizer, der vor acht Jahren Bronze bei Olympia holte und sich nun Olympiasieger nennen darf. Koretzky ist ein Mann für die Zukunft. Mathias Stirnemann, 24 Jahre und Sechster im Gesamtweltcup, Jordan Sarrou, 23 Jahre und Siebter im Gesamtweltcup oder Pablo Rodriguez Guede, 24 Jahre und Dritter beim Weltcup in Andorra ebenso. Allesamt pirschen sie sich an, um eines Tages die „großen Drei“ zu stürzen.
Sportlicher Rückblick #2 – Damenkonkurrenz so spannend wie noch nie
Das Pendant bei den Damen zu Koretzky ist die Olympiasiegerin Jenny Rissveds. Ebenfalls eigentlich noch in der U23-Kategorie, mischt sie die Elite-Damen auf. Nach der riesigen Enttäuschung bei der Heim-EM in Schweden, nur Zweite (in der U23-Kategorie) geworden zu sein, legte sie eine unfassbare Saison hin. Sieg bei der WM in der U23-Kategorie, eine Woche darauf Erste beim Weltcup in Lenzerheide und dann noch die unglaubliche Krönung bei Olympia. In gewisser Weise gut zu wissen, dass die bisherige „Übermacht“ Jolanda Neff doch zu schlagen ist und die Damenrennen nicht zur One-Woman-Show werden.
Vier verschiedene Siegerinnen bei sechs Rennen, das gab es im Weltcup lange nicht mehr. Annika Langvad legte eine furiose erste Saisonhälfte hin und dominierte sowohl die ersten Weltcups als auch die Weltmeisterschaft, Jolanda Neff kämpfte stets mit Verletzungen und konnte nur bedingt ihre volle Leistungsfähigkeit abrufen und Catherine Pendrel sorgte mit einem furiosen Saisonfinish für ein dramatisches Ende im Gesamtweltcup. Extrem bitter für Annika Langvad, die nur durch mehrere Stürze im letzten Rennen ihr Führungstrikot an die Kanadierin abgeben musste.
Sportlicher Rückblick #3 – Ernüchternde deutsche Bilanz, viele Nachwuchshoffnungen
Aus deutscher Sicht ist die Weltcupsaison 2016 als eine der schlechtesten überhaupt einzuordnen. Manuel Fumic kämpfte die ganze Saison seiner Form hinterher. Pünktlich zu Olympia schien er sie gefunden zu haben, doch ein Defekt warf ihn frühzeitig weit zurück. Der zweite deutsche Olympiastarter, Moritz Milatz, kam aufgrund seiner Doppelbelastung mit Studium und Training nicht mehr an seine Leistungsfähigkeit heran.
Wenn die Etablierten schwächeln, ist das aber die Chance für die zweite Garde sich zu präsentieren, was diese in eindrucksvoller Art und Weise auch machte. Allen voran Christian Pfäffle, der mit einem furiosen Ritt von Startplatz 100 auf Rang 17 bei der WM die Sensation schlechthin ablieferte. Aber auch Markus Schulte-Lünzum, Simon Stiebjahn und Martin Gluth konnten mehrfach ihre Klasse unter Beweis stellen. Und auch die noch jüngere Generation lies dieses Jahr aufhorchen: Ex-Junioren-Weltmeister Lukas Baum scheint zurück zu alter Stärke gefunden zu haben, Ben Zwiehoff zeigte als Vierter der EM, dass mit ihn in der Elitekategorie zu rechnen ist. Georg Egger als Fünfter bei der WM und der erst 19-jährige Max Brandl, Drittplatzierter des finalen Weltcuplaufs in Andorra, sind ebenfalls hoffnungsvolle Talente aus der Schmiede des Lexware-Teams für Olympia in vier Jahren.
Bei den Damen bleibt wohl vor allem das „Knie der Nation“ in Erinnerung an diese Saison. Sabine Spitz ging entgegen des Rats der Ärzte an den Start ihrer fünften Olympischen Spiele und blieb folglich weit hinter allen Erwartungen zurück. Die Option, die ebenfalls für Olympia qualifizierte Adelheid Morath nachzunominieren, hätte vielleicht frühzeitig in Betracht gezogen werden sollen. Die qualifizierte Spitz schaffte so allerdings das Kunststück, sich in die Riege der wenigen fünfmaligen Olympiateilnehmer einzureihen – das macht ihr so schnell keiner nach. Die Frage bleibt dennoch: Wäre ein Startverzicht gegenüber Morath und der ebenfalls qualifizierten Elisabeth Brandau eine faire Entscheidung gewesen? Zumal ein 19. Rang überhaupt nicht den Ansprüchen aller vier potenziellen Olympiastarterinnen gerecht wird.
Positiver Lichtblick in Rio: Helen Grobert scheint die Zukunft im Damenbereich zu sein. Eine sehr ansprechende Leistung im olympischen Rennen und konstant gute Leistungen im Weltcup zeugen davon. Macht sie nun den letzten Schritt in die absolute Weltspitze, fährt die Schwarzwälderin bald um Podestplätze mit. Aber auch Brandau und Morath haben hohe Annerkennung verdient, erreichten beide die vom DOSB geforderte Olympianorm und wären wohl in jedem anderen Land auch für Rio nominiert worden.
Cross Country: Begeisterung pur, aber keine Sponsoren?
Der Mountainbike-Sport boomt – eigentlich jeder aus der Szene wird das bestätigen. Insbesondere die wichtigste Rennserie der Welt – der Weltcup: Es scheint so, als würde die Begeisterung für die Weltserie immer weiter ansteigen. Die Zuschauerzahlen der diesjährigen Rennen waren immens. Betrachtet man die wohl zuschauerstärksten Rennen Albstadt, La Bresse, Lenzerheide und die WM in Nove Mesto, zählt man über 150000 Besucher. Regelrechte Fangruppierungen und Fanclubs finden sich inzwischen auf den europäischen Rennstrecken. Selbst bei den Europameisterschaften im hohen Norden in Schweden fand man eine unglaubliche Zuschauerzahl vor. Und auch die steigenden Aufrufzahlen von Redbull.tv sprechen in den letzten Jahren eine eindeutige Sprache. Der Mountainbike-Sport fasziniert!
Mehr Zuschauer bedeutet mehr Aufmerksamkeit in den Medien, was mehr Geld mit sich bringt. Die so logisch klingende Schlussfolgerung gilt seltsamerweise nicht für den Mountainbike-Sport. Selten war die finanzielle Situation bei Teams und Veranstalter so kritisch. Für die Radhersteller scheint das Engagement in den Profibereich sich nicht auszuzahlen, zu gering ist die repräsentative Wirkung eines Profiteams. Die großen Firmen setzen da eher auf andere Zugpferde. Wenn die verstärkte Vermarktung der E-Bike-Sparte das Ende eines Profiteams bedeutet, wie im Falle Multivan-Merida, dann sollte das zu denken geben. Oder wenn die wohl lukrativste Fahrerin auf dem Markt plötzlich ohne Team dasteht: Jolanda Neff hat zwar schnell einen neuen Arbeitgeber gefunden, dennoch ist mit dem Team Stöckli ein interessantes Projekt viel zu früh gescheitert.
Die Branche scheint auf die Cross-Country-Fahrer verzichten zu können, doch da irrt sie sich gewaltig. Jede Sportart braucht Vorbilder, um zu funktionieren. 4 Millionen Mountainbiker zählt die DIMB aktuell. Allesamt brauchen Vorbilder, Idole, die vormachen, wie man den Sport in Perfektion ausübt. Es gibt Biker, die gerne auf den Wettkampsport verzichten, doch jeder, der einmal Schurter und Co. durch die Wälder pflügen gesehen hat, wird sagen: So will ich auch fahren! Dazu gehört natürlich, auch denselben fahrbaren Untersatz zu besitzen. Und genau aus diesem Grund ist es für jeden Hersteller ein Fehler, dem Cross-Country-Rennsport den Rücken zu kehren.
Während die Weltcupserie ungebrochen an Außenwirkung gewinnt, scheint der Sport national weiter an Bedeutung zu verlieren. Die internationale Bundesliga galt lange als Nummer zwei hinter dem Weltcup. Die Rennen glichen einem Stelldichein der Top-Fahrer. Aber immer mehr mutieren die Rennen zu Kirmes-Veranstaltungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Veranstalter konkurrieren darin, so wenig mediale Aufmerksamkeit zu erregen wie nur möglich, sodass nicht einmal Einheimische wissen, dass die wichtigste deutsche Mountainbike-Serie gastiert. Ausnahme hierbei und großer Lichtblick für die Zukunft: Die Klassiker Heubach, Bad Säckingen und vor allem Titisee-Neustadt. Medial gut verbreitet und trotz schlechtestem Wetter mit einigen Zuschauern eine wirklich gelungene Veranstaltung, könnte das Rennen an der Skisprungschanze in Titisee-Neustadt in den nächsten Jahren eine große Nummer werden.
Die Erwartungen an das Jahr 2016 waren hoch: einige wurden erfüllt, andere nicht. Umso mehr wird es spannend sein zu sehen, wie sich das Geschehen weiterentwickelt. Es heißt immer so schön: „Nach dem Rennen ist vor dem Rennen.“ Und so beginnt bereits die Vorbereitung auf Tokio 2020. Wir sind gespannt, wie dann die Cross-Country-Rennszene aussieht!
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