Willkommen zum dritten Artikel unserer Serie „Wir entwickeln einen Fahrradrahmen“. Für Teil 1 und Teil 2 einfach klicken. In dieser Episode wird der Drehpunkt näher analysiert und erklärt, warum dieser uns das ein oder andere Mal Kopfzerbrechen bereitete. Viel Spaß bei der Lektüre und der anschließenden Diskussion!
Ein Rahmen mit hohem Drehpunkt – das Thema geistert schon seit einigen Jahren in unseren Köpfen umher. Wir waren auch schon das ein oder andere Mal kurz davor, ein solches Bike zu bauen oder zu kaufen. Was uns aber immer davon abgehalten hat, sind die hohen Anti Rise-Werte und das dadurch resultierende Verhärten beim Bremsen am Hinterrad. Irgendwie haben wir bis zum letzten Sommer nie so richtig durchschaut, wie man das Problem lösen könnte. Es stand fest: Hoher Drehpunkt gleich viel Anti Rise. Wir wollten einfach nicht in ein neues System investieren, bei dem wir zwar Vorteile sehen, diese aber mit einem zu großem Nachteil bezahlen müssen.
Irgendwie kam mir dann nach endloser Grübelei die zündende Idee:
Der Drehpunkt (Instant Center oder Momentanpol bei einem 4-Gelenker) muss einfach nur weiter nach vorne.
Wenn man das Grafische System kennt, dass den Anti Rise beschreibt, ist das auch total logisch. Aber wie es so oft ist, fallen einem die einfachsten Lösungen manchmal nicht ein.
IC 1 zeigt einen konservativen Eingelenker. Der Anti-Rise liegt bei guten 92%, die Raderhebungkurve Grün zeigt leider deutlich nach vorne.
IC 2 zeigt ein typisches High Pivot Bike mit einem sehr hohem Anti Rise von 133% (–> verhärtet auf der hinteren Bremse), die Raderhebungkurve Rot zeigt deutlich nach hinten.
IC 3 zeigt unser Konzept. Lässt man den Drehpunkt oben, schiebt ihn aber nach vorne, bekommt man die Probleme des hohen Drehpunktes beim Bremsen hinten gelöst. Die Raderhebungskurve Blau ist zwar nicht mehr ganz so aggressiv, aber immer noch sehr deutlich nach hinten gerichtet.
Hier ist das Video dazu:
Damit Ihr dem Video noch besser folgen könnt, erklären wir euch hier mal kurz, was eigentlich Rise ist und warum man Anti Rise benötigt.
Reaktion beim Bremsen (Rise)
Beim Bremsen verlagert sich das Gewicht vom Hinterrad auf das Vorderrad, was dazu führt, dass sich das Fahrwerk hinten aus dem Federweg zieht. Diesen Effekt nennt man Rise. Nun kann man die Federungssysteme so auslegen, dass Bremskräfte eine Druckkraft in die Federung verursachen. Diese Kompression des Hinterbaus kann dem sonst auftretenden Ausfedern entgegenwirken. Dieser Effekt wird „Anti Rise“ genannt.
Anti Rise
Der Anti Rise-Wert wird durch eine grafische Methode dargestellt bzw. ermittelt. Hierzu wird eine Linie vom hinteren Radaufstandspunkt durch das Instant Center (IC) gezogen. Dort, wo sie die vertikale Linie des vorderen Radaufstandspunktes schneidet, liest man die Höhe des Anti Rise ab – wobei die 100% auf Höhe des Gesamtschwerpunktes (CG) von Fahrer und Fahrrad liegen.
Der Anti Rise-Wert beschreibt, wie sich die Bremskraft der Hinterradbremse auf den Hinterbau auswirkt. Sorgt die Bremskraft für ein Einfedern des Hinterbaus, spricht man von einem Anti Rise-Wert größer als 100%. Hält die Bremskraft den Hinterbau in einer neutralen Position, so liegt der Anti Rise-Wert bei 100%. Ist die Bremskraft, die in den Hinterbau eingeleitet wird, zu gering, um den Hinterbau am Ausfedern zu hindern, liegt der Anti Rise Wert unter 100%.
Bei Eingelenkern mit hohem Drehpunkt, wie etwa bei DH-Rädern mit Umlenkrolle, hat man meist einen hohen Anti Rise-Wert. Das hat den Vorteil, dass man bei steilen Abfahrten in eine sichere Geometrie kommt, allerdings ist auch Bremsstempeln die Folge. Da sich der Hinterbau durch das Bremsen in den Federweg zieht, verhärtet er sich.
Viele VPP und Horst-Link-Konstruktionen haben Anti-Rise-Werte um die 50%, die zwar viel Traktion beim Bremsen behalten, jedoch der Schwerpunktverlagerung durch Massenträgheit beim Bremsen nicht ausreichend entgegen wirken. Folglich federt das Fahrwerk hinten beim Bremsen aus, was die Überschlagsgefahr in Steilstücken verstärken kann. Das Ziel sollte also sein, den Anti Rise-Wert so nah wie möglich an die 100% zu bekommen. Denn in diesen Bereichen wird man mit einer stabilen Geometrie, guter Traktion und einem recht aktiven Fahrwerk belohnt.
Unser Rahmen
Wir haben uns auf einen Anti Rise-Wert von 86% eingependelt. Besonders dabei ist, dass wir diesen Wert durch die Art, wie sich der virtuelle Drehpunkt durch den Raum bewegt, durch den ganzen Federweg halten. Am wichtigsten ist aber, wo der Anti Rise im SAG-Bereich liegt, falls Ihr euch jetzt fragt, wie das bei euren Bikes wohl ist.
Ebenfalls interessant ist, dass größere Fahrer mehr Anti Rise benötigen als kleine. Dasselbe gilt übrigens auch für den Anti Squat. Große Fahrer spüren Fehler in der Kinematik also stärker. Ein Vorteil ist, dass Giacomo recht groß ist und wir so immer direktes Feedback aus dem Lager der großen Fahrer bekommen. Man könnte jetzt fordern, dass man einzelne Größen mit individueller Kinematik ausstatten sollte, das würde aber zu weit gehen. Und wir sind fest davon überzeugt: Mit unserer Auslegung, zu der Ihr hier im Laufe noch viel mehr lernen werdet, haben wir einen in unseren Augen sehr guten Kompromiss gefunden.
Die finale Kinematik mit all Ihren Details erklären wir euch übrigens in Episode 5 unserer Serie. Beim nächsten Mal gibt es noch einen Einblick in die Mock Up-Phase, in der wir herausfinden, ob die erste Kinematik sich auch mit allen anderen Schnittstellen realisieren lässt.
Jetzt interessiert uns natürlich: Spürt Ihr die Auswirkungen der Hinterradbremse aufs Fahrwerk auch und inwiefern empfindet Ihr es als positiv oder negativ?
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