Neues Raaw Jibb im ersten Test: Welches Produkt stellt man einem so erfolgreichen ersten Wurf wie der Madonna an die Seite? Eine Frage, die Ruben Torenbeek seit der Gründung begleitet hat. Und auch wenn es anfangs hieß, dass es kein Trailbike wird, steht jetzt das neue Raaw Jibb auf dem Hof. Ein 29″-Trailbike mit 150 mm Federweg vorne, 135 mm hinten und auf den ersten Blick erkennbarer Raaw-DNA. Wir konnten das Alu-Rad vor dem Launch bereits testen und es vor allem auf seine Schlamm- und Schlitten-Eignung bewerten. Vorhang auf für das neue Raaw Jibb!
Steckbrief: Raaw Jibb
Einsatzbereich | Trail, All-Mountain |
---|---|
Federweg | 150-160 mm/135 mm |
Laufradgröße | 29ʺ |
Rahmenmaterial | Aluminium |
Gewicht (o. Pedale) | 14,7 kg |
Rahmengrößen | S, M, L, XL (im Test: XL) |
Website | de.raawmtb.com |
Mit dem Raaw Jibb verdoppelt die junge Marke um Ruben Torenbeek sein Angebot und stellt dem langen und langhubigen Enduro-Bike Madonna V2 einen kleinen Bruder an die Seite. Bei Raaw von klein zu sprechen ist aber ungefähr so, als würde man den günstigsten Porsche als billig bezeichnen – eine gutmütig große Rahmengeometrie trifft an diesem Trailbike immerhin auf 150 mm Federweg an der Front. Charakteristischer für den Einsatzbereich Trail ist der geringere Federweg von 135 mm am Heck.
Das Jibb steht durch die vier Rahmengrößen hindurch auf großen 29″-Laufrädern. Veränderung gibt es zwischen den Rahmengrößen aber nicht nur am Hauptrahmen, sondern auch am Hinterbau. Die verschiedenen Einsätze im Ausfallende lassen aber auch ein Verändern der Geometrie zu. Streitbar sinnvollen Schnickschnack findet man am Jibb nicht. Hier ist alles mit Sinn und Verstand gemacht. Interne Zugverlegung, die mehr kosten würde und dann vielleicht noch klappert? Nein danke. Dafür gibt es Features, die hinsichtlich der Bedienung, der Haltbarkeit und der Anwenderfreundlichkeit wahre Freude bereiten dürften.
Mit 3,6 kg Rahmengewicht ohne Dämpfer richtet sich das Jibb aber nicht gerade an Fans von Leichtbau – aufgebaut in Größe XL wiegt das Rad 14,7 kg. Dafür verspricht es ein absolut sorgloser Begleiter zu sein. Und: Der Name verspricht Spieltrieb – wie viel davon steckt wirklich im neuen Raaw Jibb?
Im Detail
Schon als das Bike auf den Hof gerollt wird, ist unverkennbar, dass es sich dabei um ein Raaw handelt. Die DNA in Formensprache und natürlich der fehlenden (Farb-)Lackierung verleitet auf den ersten Blick zum Trugschluss, dass hier ein Madonna V2 steht. Falls also in den letzten paar Wochen ein Rad dieser Sorte an euch vorbeigerollt ist, könnte direkt vor eurer Nase und ohne Tarnung ein Produkttest stattgefunden haben.
Von ungefähr kommt diese Nähe aber nicht, denn nicht nur Formensprache und das lediglich klarlackierte Alu erinnern an die große Schwester: Der Rohrsatz entspricht sogar dem der Madonna. Gut für Raaw, können sie doch aus dem bewährten Grundmaterial ein weiteres Produkt schaffen. Schlecht für Redakteure, die gerne über Neuigkeiten berichten. Zum Glück sind die Features am Jibb aber spannend, praxisnah und zu aktuellen Standards teilweise erfrischend unkonventionell.
Klar kann man mit innenverlegten Zügen ein schickes Erscheinungsbild erzielen, aber wenn man sich ehrlich ist – dieses Rad spricht Menschen an, die selbst aufbauen, umbauen und vor allem fahren. Noch deutlicher wird das in der aktuellen Situation, in der sich der kleine Hersteller noch stärker auf Rahmen-Kits fokussiert. Optik? Zweitrangig. Praktisch muss es sein. Und das ist es. Dieses Credo zieht sich am Rahmen durch und Faktoren, die für gewöhnlich eher weniger betrachtet werden, kommen in der Prioritätenliste weiter nach oben.
Fall 1: Es gießt seit Tagen und der Drang nach draußen ist gewaltig. Geil, wenn man ein Rad hat, das so konstruiert ist, dass es sich leicht abwaschen lässt. Möglichst wenige Verstecke für klebrigen Matsch? Das lässt die Freude beim Putzen weniger schnell in den Keller fallen.
Fall 2: Es gießt seit Monaten und der Drang nach draußen war in den vergangenen Wochen gewaltig. Super, wenn man ein Rad mit großen Lagern hat, die dank der zusätzlichen Dichtlippe an der Abdeckung aussehen wie neu. Das schont nicht nur den Geldbeutel, sondern macht auch weniger Frust.
Fall 3: Es hat aufgehört zu gießen – aber man hat blöderweise sein Multitool vergessen und der Verkäufer an der Tankstelle kramt aus seiner Schublade nur einen 5er Inbus raus. Wie gut wäre es, wenn man mit einem Werkzeugkopf fast jede Schraube am Hinterbau bedienen kann. Halt. Wie gut ist das!
Mit diesen kleinen Detaillösungen kann man vielleicht nicht gegen vollmundige Marketingversprechen antreten und an der Eisdiele für staunende Gesichter sorgen. Sobald es aber in den regelmäßigen Praxiseinsatz geht, sorgt dieser Fokus von Raaw immer wieder für Freude. Sorglos ist das Wort, das es trifft. Und spätestens, wenn man mal mehr an einem Fahrrad schrauben muss, wird man diese Feinheiten lieben lernen.
Was die vollmundigen Marketingversprechen angeht, hält sich Raaw zwar zurück, aber die Hausaufgaben wurden auf jeden Fall erledigt. Schauen wir uns den Viergelenk-Hinterbau an: Mit hohem Anti-Squat im Sag-Bereich sollte das Jibb bergauf sehr ruhig sein. Zum Federwegs-Ende fällt dieser ab. Übermäßigen Pedalrückschlag sollte es nicht geben. 15 % Progression hören sich im ersten Moment nicht gigantisch an, Raaw verspricht aber einen sehr definierten Hinterbau und genügend Endprogression, um nicht ständig durchzuschlagen. Klingt alles sehr vernünftig!
Die weiteren Details gefallen auch: Ein Trinkflaschenhalter findet im Hauptrahmen Platz, nahe dem Sitzrohr kann man am Oberrohr Werkzeuge unterbringen. Ein geriffelter Kettenstreben-Schutz soll die Alu-Kettenstrebe schützen und für Ruhe sorgen. Zum Schutz gibt es außerdem einen Unterrohr-Schoner. Falls man dem Namen gerecht werden will und via Crank-/Unterrohr-Grind Rails runterjibben will, ist der Rahmen geschützt. Oder natürlich bei Steinbeschuss.
Geometrie
Bei der Geometrie verfolgt Raaw ein paar Ziele: Eine gute Sitzposition, eine ausgeglichene Radlast-Verteilung und ein verspieltes, aktives Fahrverhalten fusioniert mit der DH-DNA der Madonna. Angefangen bei der guten Sitzposition lassen sich der Geometrie-Tabelle der mit 77,5° angenehm steile Sitzwinkel und der hohe Stack entnehmen. Aufrecht und nicht zu gestreckt dürfe man sitzen. Für die ausgeglichene Radlast-Verteilung lässt Raaw die Kettenstrebenlänge mitwachsen. Größe S und M werden mit einem Einsatz für 440 mm ausgeliefert, in Größe L steckt der Chip für 445 mm und am XL Rad gibt es 450 mm. Die Bauteile sind jedoch austauschbar – so kann man auch am S-Rahmen die ganz lange Strebe fahren oder am XL auf 440 mm kürzen.
Beim verspielten und aktiven Fahrverhalten fallen der relativ zur Madonna steilere Lenkwinkel und der kürzere Hauptrahmen auf. Mit 65,5° verspricht Raaw viel Druck am Vorderrad und ein spritziges Handling. Beim Reach bewegt man sich ab 420 mm am S-Rahmen in 25 mm Schritten in Richtung 495 mm am XL. Insgesamt ist der Rahmen damit nicht extrem lang, aber in einem sehr modernen Bereich. Platz für längere Vario-Sattelstützen oder der Griff zum nächstgrößeren Rahmen dürfte bei unter 400 mm Sitzrohrlänge am S- und maximalen 470 mm am XL-Rahmen gegeben sein.
Rahmengröße | S | M | L | XL |
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Laufradgröße | 29″ | 29″ | 29″ | 29″ |
Reach | 420 mm | 445 mm | 470 mm | 495 mm |
Stack | 608 mm | 622 mm | 636 mm | 649 mm |
STR | 1,45 | 1,40 | 1,35 | 1,31 |
Lenkwinkel | 65,5° | 65,5° | 65,5° | 65,5° |
Sitzwinkel, effektiv | 77,5° | 77,5° | 77,5° | 77,5° |
Sitzwinkel, real | 74,5° | 74,5° | 74,5° | 74,5° |
Oberrohr | 561 mm | 589 mm | 619 mm | 648 mm |
Steuerrohr | 100 mm | 115 mm | 130 mm | 145 mm |
Sitzrohr | 395 mm | 420 mm | 445 mm | 470 mm |
Kettenstreben | 440 mm | 440 mm | 445 mm | 450 mm |
Radstand | 1.172 mm | 1.203 mm | 1.240 mm | 1.276 mm |
Tretlagerabsenkung | 35 mm | 35 mm | 35 mm | 35 mm |
Einbauhöhe Gabel | 561 mm | 561 mm | 561 mm | 561 mm |
Gabel-Offset | 44 mm | 44 mm | 44 mm | 44 mm |
Federweg (hinten) | 135 mm | 135 mm | 135 mm | 135 mm |
Federweg (vorn) | 150 mm | 150 mm | 150 mm | 150 mm |
Ausstattung
Bereits im Laufe der Woche hat sich auch Raaw zur aktuellen Situation und den damit verbundenen Schwierigkeiten geäußert. Vorerst wird es auch beim Jibb Rahmensets geben – und die ersten Rahmen gibt es nur in Kombination mit dem Formula MOD-Dämpfer. Im Verlauf des Frühjahrs sollen aber auch Fox-Dämpfer wieder lieferbar sein und man hat die Wahl zwischen verschiedenen Modellen. Kostenpunkt: Ab 2.290 € geht es ohne Dämpfer los, mit MOD oder DPX2 liegt der Preis bei 2.590 €, teurer wird es mit Float X2 (2.740 €) und DHX2 (2.840 €). Aber auch zwei komplette Ausstattungsvarianten werden angeboten und sind ab heute bestellbar. Raaw rechnet aktuell mit einer Auslieferung der Kompletträder im Mai.
Beide Ausstattungsvarianten setzen den Fokus klar auf High-End beim Fahrwerk und sind jeweils mit Fox Factory-Fahrwerk ausgerüstet. Einzig beim Dämpfer kann man verschiedene Optionen als Alternative zum DPX2 wählen. Neben dem Float X2 lassen sich mit dem Formula MOD und dem DHX2 auch Stahlfeder-Dämpfer ausrüsten. Während das XTR-Modell bei Antrieb und Laufrädern etwas mehr Bling Bling aufweist, ist das Fox Factory-Modell etwas bodenständiger. Hier wird anstelle der Newmen Advanced-Laufräder aus Carbon das erschwinglichere und in unseren Tests größtenteils bewährte Alu-Modell aus der Evolution-Reihe eingesetzt. Abgesehen davon unterscheiden sich nur noch Bremsen und Antrieb. Am XTR-Build ist der Name Programm, am Factory-Build wird mit XT-Teilen gearbeitet.
- Federgabel Fox 36 Float Factory (150 mm)
- Dämpfer Fox Float X2 Factory (135 mm)
- Antrieb Shimano XT
- Bremsen Shimano XT
- Laufräder Newmen SL A.30 Evolution
- Reifen Maxxis Highroller II / Maxxis Dissector
- Cockpit Acros (780 mm) / Acros (40 mm)
- Sattelstütze Fox Transfer (170 mm)
RAAW Jibb | Fox Factory Build | XTR Build |
Rahmenmaterial | Alu | Alu |
Federgabel | Fox 36 Factory 150 mm Grip2 | Fox 36 Factory 150 mm Grip2 |
Dämpfer | Fox DPX2 Factory (DHX2 oder Float X2), Formula MOD | Fox DPX2 Factory (DHX2 oder Float X2), Formula MOD |
Vorbau | Acros 40 mm, 50 mm oder 60 mm | Acros 40 mm, 50 mm oder 60 mm |
Lenker | Acros Alu 780 mm 25 mm Rise | Acros Alu 780 mm 25 mm Rise |
Griffe | Ergon GD1 Evo Factory Slim Frozen Stealth | Ergon GD1 Evo Factory Slim Frozen Stealth |
Bremsen | Shimano XT M8120 | Shimano XTR 9120 |
Schaltung | Shimano XT M8100 | Shimano XTR M9100 |
Laufräder | Newmen Evolution A.30 | Newmen Advanced A.30 |
Reifen | Maxxis HighRoller II, Maxxis Dissector | Maxxis HighRoller II, Maxxis Dissector |
Sattelstütze | Fox Transfer Factory 125 mm, 150 mm oder 175 mm | Fox Transfer Factory 125 mm, 150 mm oder 175 mm |
Sattel | Ergon SM Enduro Men M/L | Ergon SM Enduro Men M/L |
Gewicht | N/A | N/A |
Preis | ab 5.490 € | ab 7.290 € |
Technische Daten
Alle technischen Daten, Details und Standards, sowie Leverage-Ratio-, Anti-Squat- und Anti-Rise-Diagramme des Raaw Jibb findet ihr in der folgenden Tabelle zum Ausklappen:
Kinematik | Viergelenker | |
Verschiedene Lager-Größen | 2 | im Hinterbau |
Gesamtzahl Lager im Hinterbau | 12 | Anzahl |
Lagerbezeichungen | 2 x 61808-2RS1 (52*40*7 mm), 10 x 91903-2RS1 (28*15*7 mm) | Herstellerangabe |
Hinterbau Einbaumaß | 148 x 12 mm | Einbaubreite x Achsdurchmesser |
Maximale Reifenfreiheit Hinterbau | 2,6" bzw. 66 mm | |
Dämpfermaß | 185 mm x 55 mm | Gesamtlänge x Hub |
Trunnion-Mount? | Ja | |
Dämpferhardware erstes Auge | Trunnion | Bolzendurchmesser x Einbaubreite |
Dämpferhardware zweites Auge | RAAW Spacer und Kugellager im Rahmen, kein Hardware von Dämpferherstellern | Bolzendurchmesser x Einbaubreite |
Freigabe für Stahlfederdämpfer | Ja | |
Freigabe für Luftdämpfer | Ja | |
Empfohlener Hinterbau-SAG | 30 %, 16,5 mm | In % oder mm |
Steuerrohr-Durchmesser | 44 mm, 56 mm | oberer Durchmesser, unterer Durchmesser |
Maximale Gabelfreigabe | 160 mm | Federweg bzw. bis zu welcher Einbauhöhe |
Tretlager | BSA 73 mm | welcher Standard, Durchmesser, Breite |
Kettenführungsaufnahme | ISCG 05 Tabs | |
Umwerferaufnahme | – | |
Schaltauge | RAAW 14,95 (6066) (18,95 für 7075) | Typ, Kosten in € |
Optimiert auf welches Kettenblatt | 32 T | Zahnzahl |
Bremsaufnahme | PM – 180 und 203 verfügbar, 203 mm ab Werk | welcher Standard |
Maximale Bremsscheibengröße | 203 mm | |
Sattelrohrdurchmesser | 31,6 mm | |
Sattelklemmendurchmesser | 35 mm | |
Maximale Stützen-Einstecktiefe | S: 205 mm, M: 230 mm, L: 255 mm, XL: 280 mm | |
Kompatibel mit Stealth-Variostützen? | Ja | |
Messung Sitzwinkel | Auf Höhe Oberrohr. 'Actual' und ST-BB Offset werden auch angegeben | Herstellerangabe |
Flaschenhalteraufnahme | Ja, eine, Oberseite Unterrohr | Eine, Oberseite des Unterrohrs |
Andere Extras, Werkzeugfächer | Werkzeug/Trinkflaschenhalter-Aufnahme Oberrohr, gedichtete Lagerabdeckungen, verstellbare Kettenstrebenlänge | |
Gewicht Rahmen | 3,6 kg | mit sämtlicher Hardware, ohne Dämpfer, Größe M |
Gesamtgewicht Bike | 14,7 kg | Gr. XL, Factory-Build, Testrad, selbst gewogen |
Garantie/Service | 2 Jahre Garantie auf Material und Produktionsfehler. 5 Jahre Crashreplacement mit 35% Rabatt. Es werden einzelne Rahmenteile angeboten damit nicht der komplette Rahmen ersetzt werden muss. Alle Details auf https://support-de.raawmtb.com/ |
Auf dem Trail
Es ist Dezember, der oben beschriebene Fall 1 ist eingetreten. Vielleicht sogar Fall 1,5. Falls ihr erst jetzt eingeschaltet habt: Es hat geregnet. Niedrige Temperaturen und eine dicke Schicht Laub tun ihr übriges, um ein Abtrocknen der Trails effektiv zu verhindern. Dazu noch Corona-Vorsicht. Genau richtig also, um Ausflüge ins Ungewisse zu vertagen und lieber von der Haustüre aus auf die Trails starten.
Der neue Begleiter für die nächsten Wochen kann sich zum Glück nicht dagegen wehren, dass er in den nächsten Stunden gründlichst durch den Dreck gezogen wird. Also ab nach draußen. Spielen. Als weniger begnadeter Trickser belassen wir es aber bei Trails und verzichten mit Blick auf die Intensiv-Kapazitäten auf 50:01-esque Einlagen … da ist ein Spielplatz mit in den Boden eingelassenem Trampolin … BOING! Das Jibb fühlt sich direkt gut an und man blödelt doch ein bisschen mehr rum als mit anderen Bikes. Zum Teil liegt das am Namen – zum Teil aber auch einfach dran, dass das Bike ohne Carbon-Rahmen und mit potenter Ausstattung nicht unbedingt den Reiz in einem auslöst, mit den XC-Jungs ballern zu geben, sondern etwas entschleunigt und den Blick schweifen lässt.
Aber nach oben muss man trotzdem. Sehr entspannt und aufrecht sitzt man auf dem Jibb und gleitet dahin. Der ausgerüstete Ergon-Sattel schmiegt sich angenehm an und drückt auch auf längeren Ausfahrten nicht. Unter Kettenzug verhärtet der Hinterbau spürbar und man erwischt sich dabei, wie man bei der Gangwahl doch zu härteren Gängen tendiert und schneller fährt, als es die entspannte Position anfangs vielleicht vermuten ließ. Dämpfer sperren? Im gesamten Testzeitraum lässt sich an einer Hand abzählen, wie oft wir den Plattform-Hebel am Float X2 umgelegt haben. Wie war das nochmal? Ah ja – sorglos. Ein Rad zum Draufsetzen und Fahren.
Abzweig in den ersten Trail-Abschnitt, erste Kurve – direkt vor einer Schlehe, vor dessen dorniger Erscheinung sich eine tiefe Pfütze auftut. Der Matsch tut sein übriges, um die Bremskräfte nicht auf den Boden zu bringen, aber das Jibb rutscht kontrolliert über beide Räder an der Bedrohung vorbei. Nach weiteren 100 Metern mit rutschigen Kurven, die das Bike souverän meistert, ist der Spaß auch schon wieder vorbei. Transfer zum nächsten Trail, der ähnlich schmierig ist. Doch während sich die Spuren auf die einfachen Linien konzentrieren, lernt man auf dem Jibb schnell, dass auch abschüssige Inside-Lines gut machbar sind. Teil daran hat die Stehposition, die wie auch die Sitzposition sehr aufrecht ist. Man steht angenehm zentral zwischen den zwei Rädern und kann sich gut darauf konzentrieren, was vor und unter einem am Reifen passiert bzw. passieren wird, anstatt permanent kleine Korrekturen machen zu müssen.
Auch die Kettenstrebe tut ihr Übriges zu dieser gelungenen Balance. Wer Angst vor Spitzkehren und engen Kurven hat, wird mit dem Jibb wiederum schnell lernen, dass die Kettenstrebenlänge im Vergleich zu ähnlich langen Bikes mit kürzerem Hinterbau kaum ein Hindernis darstellen wird. Kurven lassen sich auf dem berechenbaren Alu-Rad sehr einfach hoch anfahren und schwungvoller mitnehmen. Diese Eigenschaft, also die berechenbare Natur, die aufrechte Fahrposition und der Fakt, dass man weniger Korrekturen an der Körperposition machen muss, sorgen dafür, dass man sehr entspannt in der Abfahrt bleibt. Was man mit dieser Gelassenheit anfängt? Mehr spielen? Weniger bremsen? Mehr genießen?
Mehr spielen, kleine Absprünge suchen, aus dem Wurzelstock in die Böschung am Trail-Rand schanzen mag das Rad. Auch hier ist wieder die zentrale Körperposition hilfreich, um die Kontrolle zu behalten. Die hohe Lenkzentrale sorgt dafür, dass sich das Rad größer anfühlt, als es in Wirklichkeit ist. Vergleicht man nur den Reach, dann ist das Jibb nämlich nicht unbedingt ein Riese – fühlt sich aber sogar größer an als Räder mit längerem Reach und tieferer Front. Aber: die hohe Front ist ein sehr guter Gegenspieler zur längeren Kettenstrebe, der etwas steilere Lenkwinkel und der nicht extrem lange Hauptrahmen machen das Rad insgesamt kompakter. Und genau diese Kombination ist interessant: Viel Platz zum Arbeiten, aber nicht behäbig, wenn man sich mal vom Boden trennen will. So geht das Jibb mit normalem Kraftaufwand gut in die Luft.
Dass man nicht wie bekloppt am Lenker reißen muss, unterstützt auch der Hinterbau. Beim angestrebten Sag von 30 % ist der Hinterbau im offenen Modus angenehm satt. Wenige Klicks Dämpfung holen noch etwas mehr Leben aus dem Heck, ohne dass es zu straff wird. 15 % Endprogression hören sich im Vergleich zu manch anderem Rad nach nicht besonders viel an, reichten im Testzeitraum aber vollständig aus, um den wenigen härteren Landungen Paroli zu bieten.
Weniger bremsen geht auch noch gut, wenn es etwas ruppiger wird. Wie beschrieben liegt der Hinterbau recht satt auf. Mithilfe der Druckstufen-Dämpfung lässt sich bei bestehendem Sag der Charakter des Bikes feintunen. Ohne Dämpfung saugt sich das Hinterrad mehr am Boden fest, das Jibb fährt sich komfortabel. Fans von mehr Gegenhalt werden auch bedient und kommen in den Genuss der Dämpfungs-Qualität des neuen Float X2. Damit steht das Heck etwas höher im Federweg, wird nicht nennenswert unsensibler, lässt sich aber wesentlich besser über den Trail pushen. Gerade wenn man es gerne mit Tempo auch in ruppigere Sektionen knallen lässt und dabei noch aktiv von oben auf Linien und Luftstand Einfluss nehmen will, hat uns das Plus an Dämpfung gefallen.
Lässt man es knallen, weiß auch die Präzision zu gefallen. Mit den Newmen-Laufrädern ergibt der Rahmen eine Einheit, die in einem „funktionellen“ Spektrum am eher steifen Ende liegt. Mit weicheren Laufrädern kann man hier bei Bedarf noch nachbessern, nötig ist es aber nicht.
Der Schlussstrich? Mehr genießen! Das ist die Devise mit dem Jibb.
Das ist uns aufgefallen
- Putz mich! Am Jibb braucht man im Zweifel nicht einmal eine Bürste oder den Finger, um es sauber genug für die Wohnung zu bekommen. Dank vierfacher Lagerdichtung waren wir mit dem Wasserschlauch im Handumdrehen fertig.
- Einklappende Lenkung Zugegeben, hier muss man wirklich von einem Sonderfall reden. Steiles Gelände, Arsch über dem Hinterreifen und dann eine enge Kurve. Da muss man schon festhalten. Würden wir ausschließlich steile Trails fahren, dann würden wir hier gegebenenfalls mit der längeren Gabel, einem Winkelsteuersatz oder einem etwas weicheren Hinterbau-Setup experimentieren. Für den normalen Allround-Einsatz ist der Lenkwinkel völlig in Ordnung.
- Gewicht Mit 14,7 kg ohne Pedale ist das Raaw Jibb kein besonders leichter Vertreter der Trailbike-Kategorie, aber zum Beispiel auch nicht weit entfernt vom Carbon-Spectral 29. Es spricht aber auch nicht unbedingt die Zielgruppe an, der möglichst wenig Gewicht super wichtig ist. Wer in dieser Federwegs-Kategorie unter 12 kg unterwegs sein will, wird bei anderen Herstellern sicher etwas finden, was mehr seinem Gusto entspricht. Wer ohne Bedenken im Bikepark auf die Downhill-Strecke geben will, der wird wohl eher mal ins Allgäu zur Probefahrt kommen.
- Maxxis Dissector Der Dissector hat uns sehr gut gefallen. Guter Rollwiderstand, gute Bremsleistung und vernünftige Seitenführungskräfte. Ein spannender Reifen fürs Heck – nicht nur wenn es trocken ist.
Fazit – Raaw Jibb
Raaw hat eine genaue Vorstellung davon, wie ein Rad ihrer Meinung nach aussehen soll und diese deckt sich nicht unbedingt mit den Vorlieben von allen. Für sein Publikum hat der junge Hersteller aber ein Produkt geschaffen, das kaum Grund zur Beschwerde lässt. Bergauf: gut – bergab: super! Besonders gefallen hat uns die aufrechte Abfahrtsposition und die Balance, die dem Fahrer viel Gelassenheit bietet. Nur wenig wird dieses Rad wirklich aus der Fassung bringen. So kann man sich voll und ganz darauf konzentrieren, was man mit dem Gefährt unter sich veranstalten will. Maximaler Spaß, maximaler Speed, maximaler Genuss – deine Entscheidung!
Pro / Contra
Pro
- Balance und Fahrposition
- Zusammenspiel Hinterbau und Dämpfer
- sorgloses Chassis
- bodenständige, vernünftige Ausstattung
Contra
- nichts für Leichtbau-Fans
Testablauf
Im Rahmen der Corona-Bestimmungen sind wir das Raaw Jibb für mehrere Wochen vor dem Launch gefahren. Die winterlichen Bedingungen reichten von extrem matschig bis Schnee-/Eisfahrbahn. Das Rad wurde uns für den Testzeitraum kostenlos zur Verfügung gestellt. Um den Testeindruck zu vertiefen wurden kleine Änderungen an der Ausstattung vorgenommen.
Hier haben wir das Raaw Jibb getestet
- Singletrails BW: Unterschiedliches Gelände, von steil und technisch bis flowig
- Singletrails Hessen: Schnelle Trails mit offenen Kurven, Anliegern, mit technischen Abschnitten
- Fahrstil
- flüssig
- Ich fahre hauptsächlich
- Downhill, Enduro
- Vorlieben beim Fahrwerk
- auf der straffen Seite, viel Druckstufe, Balance zwischen Front und Heck
- Vorlieben bei der Geometrie
- vorne lang, hinten mittellang, flacher Lenkwinkel
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